Seite:Die Gartenlaube (1871) 745.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 45.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

„Gott, seien Sie doch nicht gar zu kindisch!“ fuhr Charlotte mich ungeduldig an, und zog mich mit einer einzigen kräftigen Bewegung wieder in ihr Bereich. „Es war ein ehrliches Duell, in welchem Eckhof’s Sohn fiel, und sicher der interessanteste Moment in Onkel Erich’s ganzer spießbürgerlicher Eristenz. … Aber gehen wir hinein! Die Verhandlungen haben den Siedepunkt erreicht.“

Ohne Weiteres schritt sie mit mir die Glasfront entlang und schob mich über die Schwelle der Seitenthür. Ich trat auf feinen Kies; Schlangenwege wanden sich durch dunkelndes Gebüsch, zwischen Felsengruppen hin und durchschnitten hie und da den zartesten Sammetrasen. Je mehr sich das Gitter der Zweige und Blätter verdünnte, das uns von dem Lampenschein und der Scene trennte, desto bänglicher wurde mir zu Muthe. … So stand ich doch noch ganz und gar nicht zu den Bewohnern des Vorderhauses, daß ich zur späten Nachtzeit mitten in Erörterungen hineinplatzte, die nicht für fremde Ohren geeignet waren. … Wie, wenn der Herr des Hauses darüber ergrimmte? … Ich wußte nicht, wie es kam, aber ich konnte auf einmal nicht mehr so obenhin denken: „Ei, es ist ja nur Herr Claudius!“ – Ich zitterte vor ihm.

Charlotte hatte ihren Arm um mich gelegt, und als ich im ersten Impuls, schleunigst das Weite zu suchen, zurückwich, da wurde meine Taille unbarmherzig zusammengepreßt – es ging im Sturmschritt vorwärts, und plötzlich standen wir, wie vom Himmel gefallen, vor der erstaunten Gesellschaft.

„Ich habe das Prinzeßchen im Garten aufgelesen,“ sagte Charlotte rasch und schnitt dem Buchhalter einen Redesatz von den Lippen, „Liebste Fliedner, sehen Sie sich das Kind an, ob es nicht ganz anders aussieht? Es hat Hofthee getrunken und ist im Hofwagen heimgefahren, ganz à la Aschenbrödel – zeigen Sie her, Kind, ob nicht eines Ihrer Atlasstiefelchen auf der Schloßtreppe sitzen geblieben ist!“ …

Bei aller Beklommenheit lachte ich doch und setzte mich auf den Stuhl, den mir Dagobert brachte. … Charlotte hatte Recht gehabt: verstummt, abgeschnitten war der Streit, als habe er nie stattgefunden, und als ich die Augen hob, da sah ich den Buchhalter in dem Dunkel verschwinden, durch das wir eben gekommen. … Herr Claudius stand noch neben der Palme – scheu forschend streifte ihn mein Blick – hatte er nicht ein Maal auf der Stirn? Er hatte ja einen Menschen getödtet! – Ich sah nur die ernsten, blauen Augen auf mich niederleuchten und zog erschrocken den Kopf zwischen die Schultern.

Fräulein Fliedner athmete auf; sie war sichtlich froh über mein Kommen und drückte mir zärtlich die Hand.

„Erzählen, Kindchen!“ drängte sie mich, während sie mir den Hut abnahm und die zerdrückten Aermelpuffen zurechtzupfte. „Wie war’s bei Hofe?“

Ich schmiegte mich tief in den Korbsessel – einer der riesigen Farrenkrautwedel, im Lampenlicht smaragdgrün schimmernd, schwankte nahe über meiner Stirn, und andere kamen seitwärts herüber und berührten kühl und schmeichelnd meine nackten Schultern. Ich saß da, wie unter einem schützenden Baldachin und fühlte mich geborgen. Zudem zog sich Herr Claudius zurück; aber er verließ das Glashaus nicht – man hörte ihn leise und unablässig hinter den Felsen- und Pflanzengruppen auf- und abgehen.

Mein Muth wuchs wieder, und ich erzählte, anfangs stockend, dann mich selbst darüber amüsirend, von meinem glorreichen Debüt – wie mir die so wohl vorbereitete Verbeugung in den Gliedern stecken geblieben sei; von dem Vortrag des Kinderliedchens und meinem Stück Lebensgeschichte, das ich der Prinzessin treuherzig mitgetheilt.

Charlotte unterbrach mich alle Augenblicke mit einem schallenden Gelächter; auch Fräulein Fliedner kicherte in sich hinein und klopfte mir schmeichelnd die Wangen; nur Dagobert lachte nicht mit; er sah mich genau mit demselben staunenden Schrecken an, wie die grauen Hoffräuleinaugen, und als ich schließlich, weil mir zu heiß wurde, den Foulard auf den Tisch warf und dabei sagte, daß er der Prinzessin gehöre, da nahm er das Tuch in unverkennbarer Ehrfurcht auf und hing es mit vorsichtigen Händen über seine Stuhllehne, und das ärgerte und verdroß mich über die Maßen.

„Halt!“ rief Charlotte auf einmal und streckte die Hand gegen mich aus, als ich in meinen Mittheilungen fortfahren wollte. „Nun sagen Sie selbst, Fräulein Fliedner, ob das Prinzeßchen, trotz seiner dunkelblauen Augen, nicht weit eher eine jener interessanten Töchter Israels sein könnte, wie sie die Bibel schildert, als der Sproß eines alten, echt deutschen Adelsgeschlechts! … So wie der wildlockige Kopf da unter dem Farrenkraut auftaucht, – bitte, Prinzeßchen, lassen Sie Ihre Hand noch einen Augenblick beschattend über der Stirn schweben – erinnert er mich lebhaft an Paul Delarroche’s junge Jüdin, wie sie im Uferschilf den ausgesetzten kleinen Moses verstohlen bewacht.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 745. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_745.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)