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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

„Welche Idee, Herr von Wismar!“ unterbrach ihn das Hoffräulein. „Fräulein von Sassen kann doch unmöglich mit unsrer ausgezeichneten Primadonna vom Hoftheater rivalisiren wollen – da sollte sie mir leid thun!“

„Sehen Sie nach Ihrem Thee, Constanze, ich fürchte, er wird bitter!“ sagte die Prinzessin. „Uebrigens mögen Sie sich beruhigen, ich acceptire den Vorschlag durchaus nicht, seltene Gäste behütet man wie seinen Augapfel, und den erquickenden Haideduft, der auf einmal aus dem fernen ‚Haidedorfe‘ in unsere schwülen Kreise dringt, will ich für mich allein behalten.“

Fräulein von Wildenspring schwieg. Sie schwenkte ihre Theekanne und schüttete den ersten unbrauchbaren Aufguß so jäh und stürmisch in den albernen Spülnapf, daß die braunen Tropfen auf das weiße Damasttuch sprühten.

„Und Sie wohnen nun mit dem Papa im Claudius’schen Hause?“ fragte mich der Kammerherr hastig, indem er den stolz zurechtweisenden Blick auffing, mit welchem die Prinzessin ihre ungeschickte Hofdame maß – Herr von Wismar schien eine Art Blitzableiter am Hofe zu sein.

„Wir wohnen in der Karolinenlust,“ antwortete ich.

„Ah, in den Räumen des armen Lothar!“ rief er in bedauerlichem Ton nach der Prinzessin hin.

„Ei bewahre,“ corrigirte ich eifrig, „da drin doch nicht! Die sind ja versiegelt.“

„Ich sah, wie ein helles Roth bis unter das lockige Stirnhaar der Prinzessin lief. Sie hatte mit beiden Händen die überhängende Blüthendolde einer Hortensie erfangen, die neben ihr im Blumentisch stand, und drückte tiefathmend den unteren Theil des Gesichts hinein.

„Noch immer versiegelt? Aus welchem Grunde?“ fragte sie nach einer augenblicklichen Pause den Kammerherrn. „Ist nicht sein Bruder der einzige Erbe?“

Herr von Wismar zuckte die Achseln. Er versicherte, durchaus nichts Näheres zu wissen; das seien verschollene Dinge, und der Name Claudius werde ja erst hie und da am Hofe wieder genannt, seit Herr von Sassen den Antikenfund in dem alten Kaufmannshause gemacht habe.

„Die Siegel sollen an den Thüren bleiben bis in alle Ewigkeit,“ sagte ich schüchtern – ich war meiner Lauschersünden sehr wohl eingedenk und schämte mich; aber trotz alledem wollte ich die Prinzessin nicht ohne Auskunft lassen. „Der Todte hat es so gewollt; Herr Claudius leidet deshalb nie, daß solch ein Siegel angerührt wird, er ist ja so streng, so furchtbar streng!“

„Ei, das klingt ja fast, als ob Sie sich vor ihm fürchteten, meine kleine Gnädige!“ lachte der Kammerherr.

„Ich mich fürchten? Nein – nein!“ protestirte ich voll Aerger. „Ich fürchte mich gar nicht, nicht im Geringsten mehr. Aber ich kann ihn nicht leiden!“ fuhr es mir heraus.

„O, den Mann hat Niemand lieb, Niemand in der ganzen Welt, und das versteht sich von selbst!“ rief ich lebhaft. „Er liebt ja auch nur zwei Dinge, die Arbeit – sagt Charlotte – und sein großes, dickes Zahlenbuch. … Blumen hat er, so unermeßlich viel Blumen, daß er sich und sein häßliches Haus in der Mauerstraße drin vergraben könnte, aber in dem Zimmer, wo er von früh bis spät steckt und arbeitet, duldet er nicht ein grünes Blättchen neben sich. … Mit der Uhr in der Hand schilt er seine Leute, wenn sie einen Augenblick zu spät in das abscheuliche Unkennest kommen, und Nachts betrachtet er sich die Sterne am Himmel nur, weil er sie auch so zählen kann, wie die Thaler auf seinem Tische. Er ist geizig und giebt nie einem Armen ein Almosen –“

„Halt, mein Kind,“ unterbrach mich die Prinzessin, „das muß ich widerlegen! Die Armen unserer Stadt haben keinen besseren Freund, wenn er auch vielleicht in etwas bizarrer Weise giebt und wirkt, und consequent seine Unterschrift auf Collectenlisten und dergleichen verweigert.“

Ich schwieg einen Augenblick betroffen. „Aber er ist hartherzig und kalt wie ein Eiszapfen gegen – gegen Charlotte,“ sagte ich dann rasch, „und Alles will er besser wissen als Andere.“

„Ein hübsches Sündenregister!“ lachte der Kammerherr. „Uebrigens hat der Mann vor Kurzem gezeigt, daß er wirklich manchmal Etwas besser versteht, als Andere,“ wandte er sich an die Prinzessin. „Unser schlauer Graf Zell ist endlich auch einmal zu unser Aller Genugthuung gründlich düpirt worden; sein Darling, den er von der letzten Reise mitgebracht hat, ist ein Prachtstück an Schönheit und Eleganz, aber eine heimtückische Bestie! Manche behaupten, es sei ein Circuspferd, es hat so absonderliche Gewohnheiten. Zell mochte es gar zu gern wieder los sein; in unserem Kreise hat natürlicherweise Keiner angebissen, aber man war in Rücksicht auf Zell discret, um Andere nicht kopfscheu zu machen. … Der junge Lieutenant Claudius war denn auch Feuer und Flamme, einige gute Freunde Zell’s hatten ihm die Acquisition sehr plausibel gemacht, der Herr Onkel aber hat Darling angesehen und – gedankt, sehr zum Besten des jungen Mannes, denn vor einer Stunde hat das Thier den Sohn des Banquier Tressel, der es gekauft und ein ganz respectabler Reiter sein soll, abgeworfen und ihn obendrein mit seinen Hufen übel zugerichtet.“

„Das muß ich sagen, Herr von Wismar, diese sogenannte Discretion in Ihrem Kreise verdrießt mich sehr, und Graf Zell mag sich in Acht nehmen bei seinem nächsten Erscheinen am Hofe!“ rief die Prinzessin, aus ihren großen glänzenden Augen schlug eine Flamme der Entrüstung. „Wird der Sturz schlimme Folgen haben?“

„Ich glaube kaum,“ stotterte der Kammerherr. „Hoheit mögen sich aber beruhigen und bedenken, wer der Reiter war,“ fügte er nach einem leichten Husten lächelnd hinzu, „das ist robustes Blut und eine ganz andere Knochenmasse, das ist nicht leicht umzubringen; mit ein paar Schrammen und blauen Flecken wird die Sache abgemacht sein.“

Sie sprachen vorhin von einer Charlotte im Claudius-Hause,“ sagte Herr v. Wismar, der wohl fühlen mochte, daß er zu weit gegangen sei, dann zu mir. „Ist sie das imposant schöne, junge Mädchen –“

„Nicht wahr, Charlotte ist schön?“ unterbrach ich ihn glückselig – ich verzieh ihm sofort sein ganzes kindisches Thun und Wesen um dieser einen Bezeichnung willen.

„Für meinen Geschmack ein wenig zu kolossal, zu emancipirt und herausfordernd, ich bin ihr einigemal im Frauenverein begegnet,“ sagte die Prinzessin mehr nach dem Kammerherrn hin. Die Bedeutung des „emancipirt“ verstand ich nicht, ich hörte den Tadel mehr aus dem Ton der Dame, und er schmerzte und kränkte mich tief. „Ein seltsames Verhältniß in dem Hause!“ fuhr sie fort. „Wie mag Claudius dazu gekommen sein, die Kinder eines Franzosen zu adoptiren?“

Herr von Wismar zog, abermals auskunftslos, die Schultern in die Höhe.

„Und dabei sind die Betreffenden nichts weniger als dankbar für diese Adoption,“ rief Fräulein von Wildenspring herüber. „Diese Charlotte wehrte sich stets zornig gegen den Namen Claudius, auf ihren Schulheften stand Mericourt, und die Pensionairinnen waren boshaft genug, sie so oft wie möglich mit jenem verhaßten Namen zu nennen, nur um ihre funkelnden Augen zu sehen.“

„Ah, Sie kennen das junge Mädchen näher, Constanze?“ fragte die Prinzessin.

„So weit sich eben zusammengewürfelte Pensionairinnen verschiedenen Standes kennen, Hoheit,“ entgegnete das Hoffräulein mit einem gleichgültigen Achselzucken, das mir das Blut wallen machte. „Wir waren zwei Jahre lang in ein und demselben Dresdener Institut. … Sie hat bei ihrer Hierherkunft diese nothgedrungene Bekanntschaft zu erneuern gesucht und mir sofort einen Besuch gemacht –“

„Nun?“ forschte die Prinzessin, als die junge Dame einen Augenblick zögerte.

„Papa wünschte den Umgang durchaus nicht für mich, ich bin deshalb einfach vorgefahren und habe eine Karte abgegeben –“

Sie verstummte plötzlich, wandte sich seitwärts und machte eine tiefe, sehr graziöse Verbeugung. Ein hübscher junger Herr mit einem sehr ernsten Gesicht trat in Begleitung meines Vaters und zweier anderer Herren durch die Seitenthür, es war der Herzog.

Die Prinzessin begrüßte ihn warm und herzlich wie eine Mutter; dann stellte sie mich ihm vor. Ich bedurfte keines besonderen Aufwandes von Muth mehr, um zu Serenissimus aufzusehen und seine freundlichen Fragen ruhig zu beantworten, ich war rasch sicherer geworden auf dem heiklen Boden, und „das Gänseblümchen“ mochte wohl um Vieles zuversichtlicher den Kopf heben; denn mein Vater sah mich ganz erstaunt an und fuhr mir plötzlich liebkosend mit der Hand über das Haar.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 730. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_730.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)