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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Abertausende von Menschen ergießen sich über die prachtvolle Place de la Concorde und werden nicht müde, ihr „Vive la République!“ zu brüllen. An die Schmach von Sedan denkt kein Mensch. „Er“ ist gestürzt, der Krieg nun beendigt, das der allgemeine Gedanke in Paris an jenem vierten September, welcher vom Morgen bis zur Nacht als Festtag bejubelt wird.

Inzwischen hat Gambetta in einer vom Volke überflutheten letzten Sitzung des Gesetzgebenden Körpers die Liste der provisorischen Minister, das „Comité der Nationalvertheidigung“, proclamirt, auf dem Tuilerienpalaste aber weht – es ist mittlerweile drei Uhr Nachmittags geworden – noch immer die kaiserliche Flagge. Kaiserin Eugenie hat das Schloß noch nicht verlassen. Sie hält soeben ihre letzte officielle Unterredung mit Palikao, der ihr mittheilt, daß das Ministerium mit der ganzen Versammlung vom Volke auseinander gesprengt und auf dem Stadthause die Republik proclamirt worden ist mit Trochu als Präsidenten und Oberbefehlshaber, daß er jedoch versuchen wolle, einige zuverlässige Truppen zusammenzuziehen und der Rebellion Einhalt zu thun.

„Um meinet- und der Meinigen willen,“ erwidert die Kaiserin ohne Zaudern, „soll kein Tropfen Blut vergossen werden,“ und beschließt, sofort Paris zu räumen, wenn es noch möglich ist.

Unter dieser Unterredung ist es halb vier Uhr geworden. Bereits toben aufgeregte Menschenmassen im Schloßgarten. Die alten Tuilerien gleichen einem Riesenschiffe mitten in wilder See. Durch die verödeten Säle und Gemächer hallt es wieder vom Tosen der empörten Volkswogen. Schon hört man Geschrei und Waffenrasseln auf der breiten Haupttreppe, da wird die Flagge auf der Kuppel eingezogen, vielleicht in der Hoffnung, dadurch die Aufmerksamkeit des Publicums abzulenken und glauben zu machen, daß die Kaiserin schon abgereist sei.

Allein der Zweck wird nicht erreicht. Näher und näher kommen Stimmen und Fußtritte. „Sie will entweichen!“ brüllt es draußen. „Absetzung! Es lebe die Republik! Nieder mit Badinguet! Nieder mit Frau Badinguet! Auf, hinein in’s Schloß!“

Jetzt war keine Minute mehr zu verlieren. Von Madame Le Breton, der Schwester des Generals Bourbaki, dem Fürsten Metternich, dem italienischen Gesandten Nigra und einigen Damen und Herren ihres Hofstaates begleitet, rüstet sich Eugenie zur Flucht.

Die Straße über den Hof zu erreichen, der vom Carousselplatze durch ein eisernes Gitter geschieden ist, war ein Ding der Unmöglichkeit, denn der Platz wimmelte von Menschen. Man mußte also zurück und einen andern Weg versuchen, das heißt, die Galerie des Louvre in ihrer ganzen Länge durchschneiden. Mittlerweile war das ursprüngliche Gefolge der Kaiserin auf ein winziges Häuflein zusammengeschmolzen. Es bestand nur noch aus Madame Le Breton und den beiden fremden Gesandten. Alle Anderen hatten sich zerstreut, um auf eigene Hand ihre Haut in Sicherheit zu bringen.

Glücklich kam man bis an das Thor, das sich auf den Platz St. Germain Auxerrois öffnet, gegenüber der gleichnamigen Kirche. Jenseit der Pforte liegt ein schmaler Gang mit einem stattlichen Eisengitter zu beiden Seiten, welcher auf eine Straße mündet. Doch wehe! auch diese Gasse ist voller Menschen, die ihr „Absetzung!“ und „Es lebe die Republik!“ aus vollen Lungen rufen. Die kleine Gesellschaft zögerte, ehe sie das Thor aufthat. Allein es blieb ihr nichts Anderes übrig: sie mußte vorwärts.

Hinter ihnen hörte man bereits das Toben der Menge. Kehrte man um, so fiel man ihr unrettbar in die Hände. Das Wagstück mußte unternommen werden! Vorsichtig zogen die Herren die Thür auf, lugten bang in die Straße hinaus, und die Damen gingen eiligst weiter. Sie hatten sich nur wenig unkenntlich machen können; die Schleier, welche ihre Gesichter verhüllten, waren zu dünn, denn einer der unvermeidlichen Gamins, der sie erblickte, schrie sofort los: „Die Kaiserin!“

Zum Glück achtete Niemand auf den Ausruf, und zu noch größerem Glück hielt gerade ein geschlossener Fiacre am Trottoir der Straße. Die Kaiserin und Madame Le Breton stiegen flugs hinein, nannten dem Kutscher eine fingirte Adresse und fuhren für’s Erste geborgen davon.

Gewiß, es war ein äußerst kritischer Moment. Welche entsetzlichen Scenen gefolgt sein würden, hätte man die Flüchtigen erkannt, läßt sich bei den hochgehenden Wogen der allgemeinen Aufregung und Erbitterung unschwer voraussagen.

Die Gefahren und Nöthen der Kaiserin sollten indeß noch lange nicht vorüber sein. Während die beiden Damen den Boulevard Haußmann hinabfuhren, frug Eugenie ihre Begleiterin, ob sie Geld bei sich habe. Sie selbst hatte in der Eile ihre Börse vergessen. Madame Le Breton zog ihr Portemonnaie aus der Tasche und entdeckte zu ihrem Schrecken, daß es nur – drei Franken enthielt. Was nun beginnen? Man hatte ja kaum genug, die Droschke zu bezahlen! Um jedwede Gefahr eines Streites zu vermeiden, beschloß man, den Wagen lieber alsbald wieder zu verlassen und sich zu Fuß nach der Wohnung des Dr. Evans, eines hochfashionablen und mit Recht berühmten amerikanischen Zahnarztes, zu begeben.

Gleich allen anderen Consultanten mußte die Kaiserin mit ihrer Gesellschafterin warten, bis die Reihe, gerufen zu werden, an sie kam. Dies währte eine geraume Zeit. Madame Le Breton trat zuerst in das Zimmer des Arztes, schloß die Thür hinter sich ab und bat Evans um Gottes willen, durch keinen Laut seine Ueberraschung zu verrathen, während sie ihm die Kaiserin präsentirte und erzählte, daß diese unter seinem Dache Schutz und Zuflucht zu suchen gekommen sei, so lange bis ihre Flucht in größerer Sicherheit bewerkstelligt werden könne.

Dr. Evans gehörte zu den Menschen, die ausschließlich ihrem Berufe leben und sich aller Politik fern halten. Er wußte so auch noch nichts von der plötzlichen Wendung der Dinge in Frankreich. Sein Erstaunen läßt sich daher nicht beschreiben. Daß die Kaiserin Grund haben sollte, für ihre persönliche Sicherheit zu fürchten, wollte ihm durchaus nicht einleuchten. Nichts desto weniger aber bat er die Damen, zu verweilen, setzte seinen Hut auf und ging auf die Straße hinab, um sich mit eigenen Augen und Ohren von der Sachlage zu überzeugen. Schon nach wenigen Minuten kehrte er zurück. Jetzt wußte er, daß die Kaiserin das Schloß keine Secunde zu früh verlassen hatte.

Er benahm sich durchaus ritterlich, die Gefahren, denen er sich selber aussetzte, nicht im Mindesten in Anschlag bringend. Unverweilt nahm er, mit Hintansetzung aller anderen Geschäfte, selbst das Werk der Flucht in die Hand und ersuchte die Damen, so lange seine Gäste zu sein, bis er Mittel und Wege gefunden hätte, sie ungefährdet aus Paris zu spediren.

Eine besonders günstige Fügung des Schicksals war es, daß er im Laufe der nächsten Tage zufällig zwei Damen erwartete, die seiner Dienerschaft noch unbekannt waren. Diese Damen mußten jetzt die Kaiserin und ihre Begleiterin vorstellen. Die Frau des Arztes befand sich auf dem Lande, ihr Zimmer wurde der Kaiserin als Patientin eingeräumt.

Sobald es sich thun ließ, fuhr Evans aus, angeblich, um seine gewöhnlichen Krankenbesuche abzustatten, in Wahrheit, um den Paß durch die Barrièren vorzubereiten. Er fuhr nach der Brücke von Neuilly. Man hielt ihn an und frug nach Namen und Zweck der Fahrt. Einer der Nationalgarden erkannte ihn jedoch und sagte seinen Cameraden, man könne ihn ohne weitere Fragen und ohne Paß passiren lassen. „Sehen Sie mich genau an,“ sprach der Doctor darauf. „Ich werde diese Barrière noch öfters zu passiren haben; damit Sie mich dann erkennen und ohne Weiterungen durchlassen.“

Unbehelligt gelangte er wieder nach Hause. Sein Plan war bereits entworfen. Er theilte den Damen mit, daß die genannte Barrière ohne Gefahr passirt werden könne und daß die Kaiserin sich gefallen lassen möge, auf kurze Zeit eine etwas unerfreuliche Rolle zu spielen, nämlich als eine Geisteskranke zu gelten, die er in einer hinter Neuilly gelegenen Maison de santé unterzubringen habe. Madame Le Breton solle ihre Hüterin und Pflegerin vorstellen. Selbstverständlich hatte man gegen den Vorschlag nichts einzuwenden. Was würde in diesem Momente die stolze Eugenie nicht gethan und gelitten haben, um sich vor der Wuth des Volkes zu retten, auf das sie noch vor wenigen Tagen als Halbgöttin herabgeblickt hatte!

Die Fahrt ward angetreten, die Barrière ohne Unfall erreicht.

„Pst! pst!“ machte der Doctor, indem er auf die Kaiserin wies; „hier fehlt es,“ setzte er hinzu, den Finger an seine Stirn legend; „bitte, meine Herren, regen Sie die Kranke durch Fragen nicht auf!“ Die Garden hatten Evans erkannt; sie grüßten ihn höflich und wünschten ihm und seinem Schützlinge glückliche Reise.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 726. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_726.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)