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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

drei bis Nachts elf Uhr, erlebte aber auch die Freude, über diesen einzigen Tag vierzehn Druckbogen voll schreiben zu können.

Beide, der Domherr wie Büsching, waren ihrer Zeit treue und wahrhafte Volksfreunde und der Hinblick auf ihr energisches Streben für die möglichste Erhebung der Volksschule thut noch heute dem Herzen wohl. Dazu kommt für unsere Gegenwart, daß viele Klagen über damalige Zustände der Lehrer und der Schulen fast klingen, als wären sie nicht beinahe hundert Jahre alt, sondern von gestern. Wie entrüstet ist Büsching über Diejenigen, welche behaupteten, es sei für die gemeinen Leute wegen des Jochs, welches sie drücke, schädlich, ihnen viel Einsicht und feines Gefühl zu verschaffen! „Also ganz wie in Rußland,“ ruft er, „wo von den Edelleuten behauptet wurde, daß die Kinder ihrer Bauern weiter nichts zu lernen brauchten als den Satz: ‚Sergé powelel!‘ zu Deutsch: der heilige Sergius will es, nämlich, daß Du als Soldat hingehst, wohin man Dich schickt.“ Leider ist Rußland nicht das einzige Land, wo man so denkt; es giebt auch westlich davon noch Landstrecken, wo angesehene Leute, schwarze und bunte, unter sich dieselbe Ansicht hegen.

Wer denkt auf hundert Jahre zurück, wenn er folgenden Zornausbruch liest? Büsching sagt: „Ich weiß nicht, ob ich mich wundern oder ärgern soll, daß man so wenig auf hinlängliche Mittel bedacht ist, den Stadt- und Landschulen tüchtige Lehrer zu verschaffen. Es fehlt zwar in Ansehung derselben nicht an Klagen, Wünschen und Schriften, wohl aber an Geld und Ehre, und doch ist ohne beides nichts anzurichten! Gesetzt auch, man ertheilte beides den Lehrern, welche dem Rang nach die ersten sind, so sieht man doch gar zu wenig auf die Belohnung und Ermunterung der untersten Lehrer, auf welche doch das Meiste ankommt. Ich kann den alten Wahn kaum länger erdulden, daß zu dem Unterricht in den ersten Anfangsgründen Leute von geringerer Geschicklichkeit hinlänglich wären, da doch unaussprechlich viel darauf ankommt, daß die Kinder nicht im Zuschnitt verdorben werden.“

Der Domherr spricht beziehungsreiche Wahrheiten aus in Folgendem: Woher rührt die Vortrefflichkeit des preußischen Kriegsheers anders, als von den Officieren, die von unten auf gedient haben? Unsere Premierlieutenants können im Nothfall ganz füglich die Stellen der Obersten vertreten (– das ist 1775 geschrieben, nicht 1871 –). Alles dieses hat einleuchtende Wahrheit. Dagegen hat man bisher zu den Küster- und Schulmeisterstellen auf dem platten Lande nur Handwerksleute und Bediente bestellt, welche in Seminarien höchstens mechanisch zu denken und zu unterrichten lernten. Der Handwerksmann und Bediente denkt aber sein Leben lang als ein solcher und wenn man ihn zum ansehnlichsten Rang erhöbe. Also sind beide Arten der Menschen für das Lehrfach im Zuschnitt verdorben, und was sie später etwa noch lernen, ist nur so lange zu schätzen, als man es auf eine Reparatur, nicht auf einen Hauptbau zur Verbesserung der Nation abgesehen hat.

Auf diesen Hauptbau war des Domherrn edler Geist gerichtet. Seine reformatorische Thätigkeit beschränkte sich, wie bereits bemerkt, nicht auf die Errichtung von Schulen im Basedow’schen Geiste zu Rekahn, in dem Mutterdorfe Krahne, in Gettin etc.; er ging auch in seinen Wünschen für die Lehrer dem Staate mit seinem guten Beispiele voran, indem er für das sorgte, was noch jetzt in der Lehrerwelt nicht weniger Landstriche so schmerzlich vermißt wird: entsprechende Würdigung ihres Wirkens durch gerechte Einnahme und wohlverdiente Ehre. Dafür verlangte er Fähigkeit, Geschick und Eifer derselben für die Erstrebung seines Zweckes: eine bessere sittliche Ausbildung und die Beförderung einer größeren Brauchbarkeit der Kinder auf dem Lande nach ihrer besondern künftigen Lage, und danach waren Hauptgegenstände des Unterrichts: Verstandesübung, moralische Bildung, Sprache und Sachkenntnisse.

Die Rochow’schen Schulen trugen schon nach wenigen Jahren gute Früchte, und die Rochow’schen Schriften sorgten dafür, daß Beides nicht verborgen blieb, sondern zur Nachahmung aufforderte. Schon die Titel dieser Schriften deuten uns an, was Geist und Herz dieses edeln Mannes vor Allem beschäftigte. Da lesen wir: Versuch eines Schulbuchs für Kinder der Landleute; der Kinderfreund, ein (weltbekannt gewordenes) Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen; ein Handbuch in katechetischer Form für Lehrer, welche aufklären wollen und dürfen; – Von der Bildung des Nationalcharakters (schon 1779!). Auch veröffentlichte er eine „Geschichte meiner Schulen“ und errichtete sich damit selbst das schönste Denkmal.

Das war die Rache derer v. Rochow für das „Campement“ auf dem väterlichen Erbgute. Durch Geist und Fleiß im Bunde mit Herzen, die auf dem rechten Flecke saßen, erwuchs aus der Verwüstung wieder ein blühender Besitz und aus diesem die noch edlere Blüthe einer mit aufopfernder Liebe gepflegten Volksbildung. Und als der Domherr im Jahre 1805 starb, ein Glücklicher, der den Fall Preußens und die tiefste Erniedrigung Deutschlands nicht erleben sollte, war diese Blüthe der schönste Schmuck seines Namens.

Was bis heute davon übrig geblieben? Wir sind darüber ohne Kunde, aber wünschenswerth wäre es schon, es zu erfahren.

Friedrich Hofmann.




Die Flucht einer Verschollenen.

Es war in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag, am 4. September 1870, Morgens ein Uhr. Vor dem Palaste des Gesetzgebenden Körpers zu Paris wogte eine unabsehbare Menschenmenge auf und nieder. Drinnen ward eine rasch improvisirte Sitzung gehalten, bei der indeß kein Mitglied fehlte. Ebenso waren sämmtliche Minister an ihren Plätzen und die Galerien gefüllt zum Bersten. Da erhebt sich der Präsident. Todtenstille ringsum, so daß man jeden Athemzug hört. Traurig läßt der alte Herr mit dem feinen Gesichte und dem schönen weißen Haar, Napoleon’s treues Werkzeug, der vielgenannte Schneider, den Blick über das Haus schweifen.

„Das Unglück sieht uns zu dieser ungewöhnlichen Stunde bei einander,“ beginnt er mit vibrirender Stimme. „In aller Eile habe ich Sie zusammenberufen, damit Sie über die Krisis des Augenblicks berathen.“ Nach diesen Worten sinkt er wie gebrochen in seinen Stuhl zurück.

Alle Augen richten sich auf die Ministerbank. Immer noch Grabesschweigen ringsum. Palikao steht auf, mit seinem sorgfältig rasirten steinernen Antlitz, mit dem fest geschlossenen Munde, über den sich ein kleiner Schnurrbart legt, dem eisigkalten Blicke und dem zierlich gebürsteten grauen Haare. Der „Held von Peking“ ist kein Redner, aber seine Stimme ist fest und sein Auge schaut muthig, ja mit einer gewissen Verachtung umher, während er die Katastrophe von Sedan verkündet. „Einer solchen Nachricht gegenüber,“ spricht er langsam und gelassen, „ist es dem Ministerium unmöglich, sich vor morgen in eine Diskussion einzulassen. Vor wenigen Minuten erst hat man mich aus dem Bett hier in den Sitzungssaal gerufen.“

Gambetta schleudert eine Exclamation in die Versammlung hinein, die aber kein Mensch zu verstehen scheint. Darauf fragt der Präsident die Kammer, ob sie einer Vertagung ihrer Sitzung zustimme. „Oui, oui!“ erschallt es von verschiedenen Seiten, als mit einem Male ein buschiger Kopf in die Höhe fährt und eine heisere, mißtönige Stimme dem Hause drei Anträge zur Beschlußfassung, vorlegt:

     Entthronung des Kaisers,
     Ernennung einer provisorischen Regierung und
     Beibehaltung Trochu’s als Gouverneurs von Paris.

Nur Namen von der äußersten Linken figuriren unter dem Antrag, der mit überraschender Gleichgültigkeit aufgenommen wird. Favre fügt kein Wort weiter hinzu, ein Mitglied der Rechten aber erklärt, daß man die Absetzung des Kaisers zu beschließen nicht das Recht habe. Auch hierauf bleibt Alles merkwürdig still. Dieselbe Ruhe und Stille herrschen während der ganzen Nacht bis zum Morgen auf Straßen und Boulevards.

Als wir jedoch am Vormittage durch die Stadt schlendern, umbraust uns von allen Seiten die Marseillaise, und rundum flattern rothe Fahnen. Ein kleiner Bengel von kaum zehn Jahren hat soeben das Bronzegitter vor den Tuilerien erklettert und die Spitzen desselben mit rothen Fähnchen geschmückt. Tausende und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 723. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_723.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)