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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


fast noch mehr als sein Aeußeres. In ihrem seltsam zitternden Klange lag so viel geheimes Weh, so viel ungesprochene Sorge, daß ich alsbald mit dem ernsten, blassen Menschen ein aufrichtiges Mitleid empfand, ohne mir völlig darüber klar zu sein, inwiefern er eigentlich zu diesen Gefühlen berechtige.

Nach einer Fahrt von etwa zwanzig Minuten grüßte er mich auf’s Artigste und verschwand in der Nähe des St. Jacques-Thurmes. Ungefähr vier Wochen später begegnete ich ihm in dem Hausflur meiner Wohnung. Ich erkannte ihn augenblicklich wieder.

„Sieh da, Monsieur,“ sagte ich, „wie geht’s?“

„Ach, Sie sind es, Monsieur,“ erwiderte er lebhaft. „Ich glaube, wir sind jetzt Nachbarn.“

„Wohnen Sie hier im Hause?“

„Hinten im Hofbau, fünf Treppen hoch.“

„O dieses Paris! In einer biedern deutschen Stadt würde man sich längst einen Besuch abgestattet haben!“

Er erröthete.

„Meine Verhältnisse erlauben mir nicht, Jemanden bei mir zu sehen,“ stammelte er in augenscheinlicher Verlegenheit, „sonst würde ich …“

„I,“ versetzte ich lachend, „ich kann mir wohl denken, daß Sie da droben unter Ihrem Dache keine Metternich’schen Salons etablirt haben. … Was thut’s? Bei mir finden Sie auch keinen überschwenglichen Luxus.“

„Ich bin verheirathet,“ fuhr er fort, „und habe fünf Kinder. … Die Wohnung ist sehr, sehr beschränkt, – ich kann wirklich nur meinen allernächsten Freunden zumuthen …“

„Nun, so seien Sie außer Sorgen, ich will Sie nicht eher besuchen, als bis Sie mich direct dazu auffordern. Aber Sie können mir doch wenigstens die Ehre schenken. Wir haben damals auf der Omnibus-Imperiale so angenehm geplaudert, daß es mir ein ganz besonderes Vergnügen machen würde, Sie bei mir zu sehen. Die Visite engagirt Sie in keiner Richtung. Wenn es Ihnen in meinen vier Wänden nicht behagt, so sind Sie unbedingt ermächtigt …“

„O, Sie sind zu gütig. … Schön also! Demnächst werde ich an Ihre Thür pochen.“

Höflich grüßend eilte er an mir vorüber, ich aber sann den Tag hin und her, wie es da oben, fünf Treppen hoch, wohl aussehen möchte. … Ich sollte es früh genug erfahren.

Monsieur Edouard, so hieß der Employé, besuchte mich am folgenden Sonntag. Ich lud ihn ein, mit mir zu Abend zu essen, was er auf’s Entschiedenste ablehnte. Im Uebrigen schien er sich indessen sehr wohl bei mir zu fühlen. Die Sympathie, welche ich für ihn empfand, mochte meinem Benehmen gegen ihn etwas besonders Herzliches und Vertrauliches verleihen. Kurz, wir wurden bald gute Freunde, und ehe der zweite Monat verging, hatte Edouard sein anfangs so zurückhaltendes Wesen völlig verändert. Er machte mich mit seiner Familie bekannt; er enthüllte mir seine Verhältnisse mit der Offenheit eines Kindes, dem es eine Befriedigung gewährt, seinen Kummer ungehemmt ausschütten zu dürfen. Und Kummer war es im vollsten Sinne des Wortes, Kummer, Noth und Elend, was dieser unglücklichen Familie fast jede Secunde des Lebens verbitterte und schließlich ihren Untergang herbeiführte.

Edouard hatte zwölfhundert Franken Gehalt. Er wohnte so bescheiden als möglich; aber zweihundertundfünfzig Franken, das war doch das Wenigste, was er für Miethe in Abzug zu bringen hatte. Als Employé des Hôtel de Ville mußte er stets anständig gekleidet gehen; auch seine Frau durfte in dieser Beziehung nicht ganz und gar die Forderungen des Wohlstandes verletzen. Trotz aller Vorsicht, trotz aller Berechnung war es unmöglich, diesen wichtigen Posten unter die Höhe von hundertundachtzig Franken herabzudrücken. Machte mit der Wohnung in Summa vierhundertdreißig Franken. Setzen wir nun nach einem ungefähren Ueberschlag für Wäsche sechszig Franken an, für Feuerung achtzig, für Licht zwanzig, für die Kleidung und das Schuhwerk der Kinder achtzig, für Schulgeld vierzig, und für unvorhergesehene und nicht näher zu bezeichnende Ausgaben neunzig Franken, – Alles die fast unmöglichen Minima –, so blieben für den eigentlichen Lebensunterhalt von sieben Menschen vierhundert Franken übrig! Man sollte es für absolut unthunlich halten, daß eine Familie mit dieser armseligen Summe mehr bestreiten könnte, als die Nahrungskosten eines Quartals. Edouard und die Seinen mußten mit vierhundert Franken ein volles Jahr hindurch wirthschaften. „Aber fragt mich nur nicht wie!“ Das Herz blutet Einem bei diesem trostlosen, himmelschreienden Elend!

Ein Franken und zehn Centimes, – also noch nicht neun Silbergroschen täglich in einer Stadt wie Paris! Das war der langsame Hungertod in allerbester Form! In der That starb eines der unglücklichen Kinder noch in demselben Herbste – am Schleimfieber, wie die Mutter meinte, in Wahrheit aber aus Entkräftung.

Ich muß es Madame Edouard nachsagen, sie wußte das Verhungern der Ihrigen meisterhaft zu verzögern. Sie verstand es, die knurrenden Mägen doch wenigstens zweimal in der Woche zu befriedigen. Aber freilich, es waren seltsame Diners, die sie auftischte. Bald kochte sie zwei Pfund Weizenmehl mit Salz und Wasser zu einem zähen Brei, – eine Delicatesse, die bereits drei Viertel ihres täglichen Budgets erschöpfte. Das wurde dann Abends zur Hauptmahlzeit servirt, nachdem ein Theil zum Frühstück für den folgenden Tag bei Seite gestellt worden war. Dazu gab es mikroskopische Brodportionen, aber nicht einen Tropfen Wein, so unentbehrlich dieser billige Trank selbst den bescheidensten Ansprüchen erscheinen mag. Bald kaufte sie in den Markthallen verdorbene Fische und suchte die scheußliche Waare durch eine beizende Zwiebelbrühe weniger ungenießbar zu machen. Bald warf sie etwas Kohl in einen großen Kessel und bereitete eine „Suppe“, das heißt, sie sättigte ihre Familie mit Wasser, in welchem einige Blätter herumschwammen. Kurz es war im besten Falle ein sinnreiches Belügen der gebieterisch fordernden Natur, und heute noch ist es mir räthselhaft, wie es den Unglücklichen gelingen konnte, so lange den verheerenden Wirkungen der Entbehrung Widerstand zu leisten. Zwei der kleineren Kinder sind offenbar von Zeit zu Zeit wider Wissen der Eltern – betteln gegangen. … Paris ist groß und der Hunger thut weh. … Alle mütterlichen Moralpredigten, alle Grundsätze des Stolzes schmelzen vor dem quälenden Gefühl der Leere, das der junge Organismus, der da wachsen will, doppelt schmerzlich empfindet!

In Deutschland hätte Madame Edouard über ein kostbares Hülfsmittel verfügt, das ihr den grenzenlosen Jammer wenigstens um Einiges erleichtert hätte, – über die Kartoffeln. In Paris spielt dieses Hauptnahrungsmittel des deutschen Proletariats eine untergeordnete Rolle, weil es zu theuer ist. Auch das Brod hat nicht die gleiche Bedeutung wie in Deutschland. Mit Einem Worte, die Armen und Elenden von Paris sind die elendesten unter der Sonne!

Die Wohnung der Edouard’schen Familie bestand aus zwei Räumen: einem Zimmer und einer Küche, die indeß fast einem Verschlage glich. In diesem Zimmer befand sich ein Ameublement der dürftigsten Art: drei Betten, ein Tisch, sechs Stühle und ein Schrank aus Eichenholz; das war Alles! Hier waltete von früh bis spät Madame Edouard und nähte, strickte, flickte, bügelte und bürstete sich schier den Bast von den Fingern. Nur so war es möglich, die Garderobe der Familie mit den oben angedeuteten Auslagen zu bestreiten. Unter diesen Umständen konnte von einem Nebenverdienste der Frau natürlich nicht die Rede sein.

Aber – wird man fragen – hätte nicht vielleicht Monsieur Edouard in seinen Mußestunden …? Vollende nicht, grausamer Leser! Monsieur Edouard war von Morgens sechs bis Mittags Zwölf und von Nachmittags Eins bis Abends Sechs beschäftigt, um nach eingenommener Mahlzeit abermals in’s Joch gespannt zu werden. Manchmal kam er erst um halb Elf, Elf vom Bureau zurück. Nur Sonntag Nachmittags war er frei, aber so abgespannt, daß er diese Frist unbedingt seiner Erholung widmen mußte, wenn er nicht krank werden wollte!

Eines Tags kam Edouard zu mir auf’s Zimmer und bat mich mit zitternder Stimme um ein kleines Darlehn. … Seine Frau war seit drei Tagen bettlägerig. … Sie bedurfte der Pflege, der Medicamente, des ärztlichen Beistandes, … aber es waren keine hundert Sous mehr in der Haushaltungscasse vorräthig.

Nie hat mich eine ähnliche Bitte mehr erschüttert als diese. Es lag so viel Bescheidenheit, so viel Zartgefühl in der Art und Weise des unglücklichen Mannes, daß ich in diesem Augenblicke gewünscht hätte, über die Renten Rothschild’s zu verfügen, – nur um dem Aermsten ein paar Tausendpfundnoten zu Füßen legen zu können. Ich wußte wohl, daß Edouard, der seit Jahren mit dem Deficit rang, kaum jemals im Stande sein würde, ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_678.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)