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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 40.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Sühne durchs Leben.

Von Gottfried Kinkel.


Eine warme Sommernacht ruhte über einer noch jungen Ansiedlung im westlichen Theil des Staates Iowa, da wo er an Minnesota stößt. Der Mond, im ersten Viertel über der Prairie untergehend, warf ein röthliches Dämmerlicht über die Gegend. Es war, was die Hinterwäldler eine Opening nennen; die Prairie drang vom Westen her in den Urwald ein und bildete zwischen dessen dunkler Umsäumung eine Bucht. Am Waldrand floß mit leisem Rauschen ein klarer tiefer Bach, und über diesem war ein Stück des Forstes ausgehauen, um das Holz für die Wohngebäude und die mächtigen Zäune zu liefern, welche die Pflanzung mit dunkeln Linien einschlossen und durchschnitten. Die Stümpfe der von der Holzaxt auf halber Manneshöhe abgeschlagenen Bäume standen bleich im Mondlicht, wie Grabsteine auf einem Kirchhof; zwischen ihnen lagen schlafend die braunen Pferde. Näher der Wohnung, auf der flachen Wiese, ruhten die Rinder, und nur leise tönte zuweilen eine Kuhglocke, wenn ein Thier im Schlaf einen kriechenden Käfer abschüttelte. Weiterhin am Waldsaume hingereiht sah man noch ein paar Blockhäuser in ihren Pferchen liegen, wo andere Ansiedler auf dem Boden sich niedergelassen hatten, den der Pflug aber erst dem Ackerbau eroberte. Die Nacht war heiter und still: aus dem tiefen Urwald kein Schlag eines Vogels, im Haus des Ansiedlers kein Licht; nur Feuerfliegen durchgaukelten den Wald, wo sein Laub gegen den Wiesenrand hin dünner wurde und ihrem Spiel Raum gab. Zuweilen rauschte ein Windstoß von der Steppe herüber und verklang ostwärts in dem unergründlichen Walde.

Jetzt aber, als eben der Mond über der silberglänzenden Grasfläche wie über einem Meere versank, scholl aus der Prairie, von dem hohen Gras gedämpft, der Hufschlag eines Pferdes. Auf einem zottigen Pony ritt ein Knabe auf die Ansiedlung zu, an allen Blockhäusern vorüber, schlug mit dem Knopf seiner Peitsche an die Fensterladen und weckte die Bewohner. Vor dem größten der Häuser sprang er vom Pferde, band den Zügel an den Pfostenring und öffnete die Thür.

Drinnen und in allen Blockhäusern den Waldsaum entlang wurde es lebendig, in den Fenstern schienen Lichter. Die Thüren öffneten sich, die Männer traten heraus in ihren warmen Röcken von Wolldecken gemacht, alle die Flinte in der Hand, in den Thüren standen die Frauen, neugierig zu hören, was es gebe.

Die Männer sammelten sich vor der größten Ansiedlung; deren Besitzer trat unter sie und sagte leise: „Aloys meldet, die Indianer kommen diese Nacht. Ritter,“ sagte er zu einem der Nachbarn, „lauf’ an alle Häuser und heiße die Frauen die Lichter löschen, damit sie nicht sehen, daß wir gewarnt sind.“

„Laß den Aloys erzählen, was er weiß,“ sprach ein Anderer.

Der Knabe, der inzwischen einen Carabiner geladen hatte, trat unter die Männer und gab Bericht.

Er war höchstens fünfzehn Jahr alt, aber in der frühen Reife, die Arbeit und Gefahr auf solch neuem Boden hervortreiben, mochte er an Thatkraft und Verstand wohl für einen Mann gelten.

Die Nachbarn schätzten ihn und vertrauten seinem Wort.

Wieder einmal war an den Grenzen der Cultur und der Steppe der Kampf zwischen Ackerbau und Jägerfreiheit entbrannt, der so alt wie die Culturwelt ist. Der Indianerstamm der Dacotahs hatte auf diesen äußersten Pflanzungen mit einem Viehdiebstahl den Anfang gemacht; auch dem Vater des Aloys waren ein paar gute canadische Pferde in die Prairie verschwunden. Aus Rache hatten einige Yankees von der drei Stunden entfernten Nachbar-Ansiedlung zwei Indianer erschossen, die friedlich und vielleicht ohne böse Hintergedanken ihre Pflanzungen betraten. Die Dacotahs übten Blutrache, und jene Pflanzung war in einer Nacht überfallen, alle Männer erschlagen, Weiber, Kinder und Vieh fortgeführt und die Blockhäuser niedergebrannt worden.

Seit dies geschehen, litt es den Aloys Nachts nicht zu Haus. Die Männer waren von der schweren heißen Tagesarbeit der Ernte zu müde, um regelmäßige Wachen aufzustellen; auch hatte man mehrere Wochen von Indianern nichts mehr gehört, es hieß, sie hätten sich nordwärts nach dem inneren Minnesota zurückgezogen; die Regierung der Vereinigten Staaten hatte zehn Stunden rückwärts von der Pflanzung einen Posten regelmäßigen Militärs aufgestellt, das schien sie zurückgescheucht zu haben. Mit der Leichtblütigkeit, die alle Menschen in stets gefährdeter Lage kennzeichnet, gab man sich wieder einer sorglosen Sicherheit hin.

Nur Aloys rastete nicht. Er war ein merkwürdiger Mensch. Schon mit sechs Jahren ritt er am liebsten allein auf seinem Pony in die Prairie hinaus, halbe Tage lang, wenn es auf den Feldern und beim Vieh nichts zu arbeiten gab. Mit der Prairie war er vertrauter als irgend ein Mann unter den Ansiedlern. Jedes Rinnsal eines Baches, jeden Busch kannte er, der als Merkzeichen eines Tümpels diente; Tagereisen weit in die Steppe hinaus wußte er, wo Wasser anzutreffen war. Als er zehn Jahre alt wurde, ritt er mit der Vogelflinte den Prairiehühnern und Wandertauben nach, die waren dann auch seine Nahrung, und oft kam

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 661. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_661.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)