Seite:Die Gartenlaube (1871) 632.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


ernannte ihn im Kriegsjahr 1866 zu seinem Hofpianisten; er war der Liebling der hohen Aristokratie und fand in ihren Kreisen manche seiner begabtesten Schüler. Nie ward man müde, seine klaren, feinsinnigen Interpretationen, die elastische Kraft und Zartheit seines Anschlags, die Unfehlbarkeit seiner aller Schwierigkeiten spottenden Technik, seine Kunst der Nüancirung, die ihn für Alles den richtigen Ausdruck finden ließ, zu bewundern; ein jedes der von ihm angekündigten Concerte war im voraus eines in allen Beziehungen glänzenden Lohnes sicher.

Im October 1866 vermehrte Tausig die Kunstanstalten der preußischen Residenz um eine Schule für höheres Clavierspiel, an der er zu Nutz und Frommen seiner Kunst als Lehrer wirkte und eine Anzahl tüchtiger Schüler und Schülerinnen bildete. Von Berlin aus auch unternahm er seine kleineren und größeren Wanderungen in die Welt hinaus. Er concertirte 1866 in Hamburg, Dänemark, Schweden, 1867 in Leipzig, wo er im Gewandhause größten Beifall erzielte und später wiederholt auftrat, 1868 in Holland. Auch Ungarn und die Türkei waren Zeugen seiner Triumphe, wogegen er die Schweiz, Frankreich und England nur als genießender, nicht aber als spendender Künstler durchreiste.

Im Interesse Anderer immer gern thätig, verschmähte Tausig doch für seine eigene Person jede Art von Reclame, wie sich selbst die besseren Künstler deren nicht selten bedienen. Der strenge Maßstab, den er an jegliche seiner Leistungen legte und der sich beispielsweise darin kundgab, daß er eine Einladung der Leipziger Gewandhausdirection zur Mitwirkung in einem ihrer Concerte noch unlängst ablehnte, weil er (dessen Gedächtniß bekanntlich fast die gesammte Clavierliteratur umfaßte) augenblicklich „nichts fertig habe, was er spielen könne“ – dieser strenge Maßstab bedingte auch seine sich steigernden Anforderungen gegenüber seinen schöpferischen Arbeiten.

Auch seinem Entwickelungsgange als Componist fehlte nicht die Sturm- und Drangperiode, die er als Virtuos durchleben mußte, und die nur Wenigen erspart bleibt, in denen der Genius den göttlichen Funken entzündet. Viel Ungleichmäßiges, Ungeklärtes findet sich in seinen früheren Erzeugnissen, das ist gewiß, obschon sie genialer Züge keineswegs entbehren. Er selbst verwarf dieselben auch und betrachtete sein bisheriges Leben nur als Vorbereitung für eine umfangreiche productive Thätigkeit. Vier Concert-Etuden, die im vergangenen Winter entstanden, bezeichnete er als seine ersten selbstständigen Compositionen und veröffentlichte sie als Opus 1, hiermit Alles negirend, was er im Lauf von elf Jahren von eigenen Clavirwerken, wie von Bearbeitungen fremder Schöpfungen herausgegeben hatte. Unter Letzteren gerade aber findet sich viel Werthvolles. So seine Uebertragungen der Beethoven’schen Quartette für Clavier, die Liszt als meisterhaft anerkannt, desgleichen der Toccata und Fuge von Bach (D-moll) und der Märsche von Schubert. So auch die „Nouvelles soirées de Vienne“ nach Liszt, die drei Paraphrasen über Tristan und Isolde, zwei andere über die Walküre, wie der Clavierauszug der Meistersinger und des Kaisermarsches von Wagner. Zu Gunsten der Pianisten und als dankbarer Verlagsartikel dürfte sich auch das baldige Erscheinen seiner Bearbeitung des zweiten Concertes von Chopin (E-moll) empfehlen, die Liszt als vollständigst gelungen und ebenso maß- wie stil- und effectvoll rühmt. Tausig selbst brachte sie während des letzten Winters in Leipzig zu Gehör; doch erregte sie auf dem musikalisch streng conservativen Boden Opposition, weil sie der Physiognomie des Originals hier und da einen veränderten Ausdruck gab.

Im Uebrigen entzog er sich in letzter Zeit mehr denn sonst der Oeffentlichkeit; tief verstimmt durch den Krieg, verstand er sich nur dazu, in einigen Wohlthätigkeitsconcerten mitzuwirken. Ohnedies von natürlicher Reizbarkeit und keineswegs starker Organisation, in Folge jahrelanger unmäßiger Ueberanspannung der Nerven und namentlich der Gedächtnißkraft, überanstrengt, fühlte er sich im Beginn dieses Sommers sehr angegriffen und klagte über ein schleichendes Unwohlsein, das ihn zum Arbeiten unfähig mache. Ein rheumatisches Leiden, das ihn noch zudem befiel, bestimmte ihn zu dem Entschluß, in Ragaz in der Schweiz Genesung zu suchen, das ihm schon früher heilbringend gewesen war. In Begleitung zweier ihm befreundeter Damen, der Gräfin Krockow und Frau v. Moukhanoff-Nesselrode, gedachte er sich des dortigen Aufenthaltes zu erfreuen; zuvor aber wollte er in Leipzig noch einmal mit dem Meister zusammentreffen, dem er seit seinen Lehr- und Knabenjahren mit glühender Verehrung und Dankbarkeit ergeben war. Nur wenige Mal, im Frühjahr 1861 in Paris und gelegentlich der Weimarer Tonkünstlerversammlung, wie im Mai 1870 beim dortigen Beethovenfest, hatten sie einander wiedergesehen, seit der große Lehrer seinen Schüler einst mit seinen Segenssprüchen entlassen.

Nun drängte es den Letzteren noch einmal in Jenes Nähe. Er brach einen Landaufenthalt bei Dresden im Hause der Gräfin Krockow kurz ab und traf am 2. Juli während eines vom Riedel’schen Gesangverein veranstalteten Kirchenconcerts noch rechtzeitig ein, um die zwei von Liszt aufgeführten Werke zu hören. Mit Wärme äußerte er sich über den durch dieselben empfangenen Eindruck zu uns, seinen Nachbarn, als wir am Abend in heiterer Tafelrunde beisammen saßen. Den materiellen Genüssen der Tafel gegenüber zwar verhielt er sich gänzlich abgeneigt, diese seine Enthaltsamkeit durch körperliches Unbehagen motivirend. Doch zeigte er sich, wenn auch nicht allzu gesprächig, doch angeregt und liebenswürdig, weit entfernt von dem anspruchsvollen Wesen, das man ihm sehr mit Unrecht nachgesagt. Vor Jahren schon waren wir ihm begegnet, als er, ein Knabe noch, bei Liszt in Weimar studirte und bereits damals Alle, die ihn hörten, ob seiner Fertigkeit in Staunen versetzte. Wir hatten uns oftmals seitdem seiner gereiften Künstlerschaft erfreut, nun fanden wir uns noch einmal ihm persönlich nahe.

Es war das letzte Mal, daß er sich im Leben noch fröhlicher Geselligkeit erfreute! Der nächste Morgen schon warf ihn auf das Krankenlager, von dem er sich nicht wieder erheben sollte. Mit all seinen Kräften widerstrebte er der Krankheit, aber endlich bezwang sie ihn doch. Wenige Tage später nach Ausbruch des Typhus auf Andrängen des Arztes in das Leipziger Krankenhaus gebracht, erbat er telegraphisch die Gegenwart der Freundinnen, mit denen er die Freuden der Reise zu theilen gehofft hatte. Ihre treue Sorgfalt hielt Wacht an seinem Bett und sie, die verständnißvollen Gönnerinnen seiner Kunst im Leben, erleichterten ihm nun auch die Qual seiner letzten Stunden. Der Gedanke an die Kunst aber verließ ihn noch jetzt nicht und seine Phantasien waren ein wüstes musikalisches Durcheinander. „Wagner ist todt, Bülow ist todt und Liszt hat ein schweres Unglück betroffen!“ rief er unter Anderm der Gräfin Krockow zu, die ihn nur mit Mühe zu beruhigen vermochte. Er sah seinen Tod voraus und klagte, daß er so früh schon sterben müsse, da er doch so gern noch leben und seine Aufgabe erfüllen möchte. Aller Trost und Zuspruch ließ ihn ungläubig; er schüttelte den Kopf, fühlend, daß seine Stunde gekommen.

Die Hoffnung der Aerzte auf einen günstigen Ausgang der Krankheit schwand plötzlich, nachdem am 15. Juli eine unerwartete Veränderung im Zustand des Kranken eintrat. Sie erkannten, daß alles menschliche Vermögen hier eitel sei. Seine bisherige Aufgeregtheit wich einer dumpfen Theilnahmlosigkeit. Die Blumen und Grüße, die ihm fernher von schöner Hand gesandt wurden, kamen zu spät, um ihn hienieden noch zu erfreuen. Ruhe, tiefe Stille war sein einzig Begehr. Seine letzte Kraft war der Beobachtung seiner Krankheit zugewandt, und die Bitte, ihm den Thermometer zu reichen, mit dem er die Höhe seines Fiebers maß, war das letzte Wort, das die Umherstehenden von seinen Lippen vernahmen. Dann verloren sich seine Worte in dem unverständlichen Lallen eines Sterbenden. In vollem Bewußtsein schied er aus dem Leben, und in der vierten Morgenstunde des 17. Juli war der letzte Kampf ausgekämpft.

Das Schicksal hat gewollt, daß er in Leipzig sterben sollte, für das er, vielleicht in Vorahnung seines baldigen Endes, geringe Sympathien hegte. Freunde, die von Berlin herbeigeeilt waren, empfingen seine irdische Hülle und geleiteten sie zurück nach der einstigen Stätte seiner Wirksamkeit. Dort bettete man ihn am Vormittag des 21. Juli unter den Klängen des Beethoven’schen Trauermarsches, von Donner und Blitzen begleitet, in sein frühes Grab.

Wir aber stehen trauernd an dem frischen Hügel, der ihn deckt, das vorzeitige Ende eines Künstlerdaseins beklagend, das so reich begnadet schien von der Natur und das ein höherer Wille doch still stehen hieß, noch bevor es sich ausleben und vollenden durfte. Der reifen Frucht dachten wir uns zu freuen und müssen uns nun genügen lassen, nur ihre Blüthen geschaut zu haben!



Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 632. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_632.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)