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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


noch eine sehr junge, aus den dreißiger Jahren oder gar erst seit der durch den Sonderbundskrieg von 1847 hervorgerufenen neuen Bundesverfassung datirend. Bis dahin blühte in der Schweiz das Junkerregiment so lustig wie nur heute in Mecklenburg, blos einmal durch den Einfall der Franzosen und Napoleon’s Weltherrschaft unterbrochen, um nach der Restauration desto übermüthiger wieder das Haupt zu erheben. Die „gnädigen Herren Junker“, ob als Vögte, als Bannerherrn als Baillis auf ihren über das Land verstreuten Burgen sitzend, ob als regimentsfähige Geschlechter in den städtischen Rath- und Zunfthäusern tagend, ob als Bischöfe und Aebte in fürstlichen Schlössern und Stiften residirend, waren allmächtig. Der gewerbtreibende Bürger und der Bauer, in politischen Dingen eine reine Null, kamen staatlich kaum mehr in Betracht als die Heloten der alten Griechen. Ja, verschiedene der heutigen selbstständigen Cantone und gleichberechtigten Cantonsgebiete waren bis zur französischen Revolution bekanntlich im buchstäblichen Sinne des Worts Unterthanenländer dieser gnädigen Herren, so Waadt und Aargau von Bern, Tessin von Uri, und in Bünden schaltete ein ganzes Schock von Adelsdynasten mit absoluter Willkür.

So finden die vielen Zwingburgen in den Thälern der Rhone, des Rheins, der Reuß, der Aare, die Herrenschlösser am Genfer, Boden-, Thuner und Neuenburger See, die bethürmten Patricierhäuser in Bern, Zürich, Freiburg, Solothurn, Schaffhausen und anderen größeren und kleineren Städten des Landes ihre Erklärung.

Unter sämmtlichen dieser Denkmale der Feudalzeit aber hat die Schweiz wohl kein zweites aufzuweisen, dessen Name der Welt so geläufig wäre wie die Inselburg Chillon im Genfer See: Lage, Geschichte und Poesie, sie alle drei haben sich vereinigt, ihre Zinnen mit einer unvergänglichen Glorie zu umkränzen. In der schönsten Bucht des Lemans, wo, ein immer blühender Terrassengarten voller Städte, Dörfer, Villen und Schlösser, gegen Morgen und Mittag von den Felshörnern und Schneebergen der Waadtländer, Walliser und Savoyer Alpen behütet, dieser Winkel des Genfer Sees in seinem idealen Ensemble von Anmuth und Erhabenheit alle Rivalen siegreich aus dem Felde schlägt, und zwar auf der allerschönsten Stelle derselben haben wir unsere Inselveste zu suchen. Nur zwei Schritte von dem gleich einem Seeungethüm sich trutzig emporreckenden Steinklumpen der Burg stehen jetzt die leichten Bauten der Station Veytaux-Chillon. Eine doppelte Umfassung von crenelirten Mauern schützt das Schloß nordwärts nach dem Lande zu. An ihren Ecken springen drei spitzbedachte Rundthürme vor, gegen Osten mit einer massigen quadratischen Warte verbunden; durch sie führt die spitzbogige Pforte, der einzige Eingang des Bauwerks, in das Innere der Burg. Inmitten des Felseneilands erhebt sich, alle übrigen Constructionen weit überragend, der gewaltige viereckige Donjon. Von wo aus man Chillon daher auch sehen mag, überall stellt es sich in hohem Grade malerisch dar, erst aber, wenn man in den ersten der terrassenförmig übereinander aufsteigenden drei Höfe der Veste eintritt, empfängt man eine Vorstellung von dem außerordentlichen Umfange, den sie beschreibt.

Seine Hauptfaçade, welche aus zwei oder, die Souterrains mitgerechnet, aus drei Etagen besteht, kehrt Chillon dem Wasser zu. Hier liegen, doch nicht unter dem Seespiegel, wie man vielfach liest, sondern acht Fuß über dem See, die in den Felsen gehauenen Gewölbe, die einst zu jenen furchtbaren Kerkern dienten, von welchen uns die Geschichte erzählt. Es sind ihrer drei, zwei nebeneinander, der dritte, durch verschiedene Zwischenlocalitäten von ihnen getrennt, nähert sich mehr der nordwestlichen Burgecke. Die beiden letzteren sind mächtige Hallen, so groß, daß eine ganze Compagnie Soldaten darin exerciren könnte. Plumpe byzantinische Säulen stützen ihre gothischen Deckenbogen, und an den Gewölben angebrachte kleine Schießscharten lassen nur ein mattes Sonnenlicht eindringen. Morgens, wenn der See das Blau des Himmels widerspiegelt, färben azurne Reflexe die Bogen; Abends kommen grünliche Tinten, allein dieser schwache Schimmer verscheucht nur wenig das Dunkel, und der Hintergrund der Verließe bleibt in ewige Finsterniß eingehüllt.

Zwischen den einzelnen Krypten passirt man zwei enge und dunkle Grotten, in welchen wahrscheinlich die zum Tode verurtheilten Gefangenen ihre Häupter auf den Block legen mußten. Ueber der ersten dieser Gefängnißhallen hatte der Burgvogt und Castellan seine Wohnung; einst war sie so ausgestattet, wie der Künstler es auf unserm Bilde gezeichnet hat, jetzt ist sie zur nüchternen Behausung eines modernen Pförtners degradirt. Ueber der zweiten sehen wir die Küche und den Speisesaal der ehemaligen Residenz, welchen vier Säulen von geschnitztem Eichenholze theilen. Ungeheure Kamine mit leicht geneigten Decken thun dar, wie verschwenderisch die dichten Wälder ringsum das erforderliche Brennmaterial lieferten. Aus dem dritten Kerkergewölbe geht es direct nach dem Gerichtssaale empor. In ihm ward das Loos so manches Unglücklichen besiegelt, den man durch eine Fallthür in die hier achthundert Fuß messende Tiefe des Sees versenkte und so auf ewig verstummen und verschwinden ließ.

Dergestalt sind die Kerker von Chillon beschaffen, in die bis zum Anfange des sechszehnten Jahrhunderts kein neugieriger Blick dringen durfte. Das Volk kannte sie blos aus vagen und geheimnißvollen Beschreibungen und nannte sie nur den „Schlund von Chillon“. Alles, was man sich davon erzählte, war voller Schrecken. Wie viele Köpfe waren darin weiß geworden, wie viele Märtyrer darin von den Menschen vergessen gestorben! Wie Wenige von allen Denen, welche man in das grausige Verließ geworfen, haben jemals das Licht des Tages wieder erblickt! Die mächtigen Felsen, die Einsamkeit, die Brandung, die eintönig an die Mauern schlägt, der dumpfe grabeshohle Klang der menschlichen Stimme in den vielen Gewölben – das Alles war dazu angethan, das Herz mit Eisesschauern zu überrieseln.

Eine andere finstere und winklige Stiege bringt uns in den Rittersaal. Das zierliche Holzgetäfel an der Decke ist noch erhalten, auch einige Spuren von Malerei zeigen sich noch am zerbröckelnden Abputze der Wände. Im Uebrigen ist es ein nackter, wüster Raum, der uns nichts vom Glanze seiner Jugendtage verräth. Auch „die Gemächer des Herzogs und der Herzogin“ sind keineswegs fürstliche Appartements nach unseren heutigen Begriffen, und von der hart an den dritten, westlichen Rundthurm grenzenden Capelle sind nur noch wenige Reste vorhanden; sie reichen indeß hin, uns den zierlichen Spitzbogenstyl erkennen zu lassen, in welchem sie erbaut war. Daß man hier auch die Folterkammer nicht vergessen hatte, bedarf leider keiner Erwähnung. Gegenwärtig ist Chillon das Artilleriezeughaus des Cantons Waadt und über seinem Thore prangt die waadtländische Wappendevise „Liberté et Patrie“.

Chillon hat als Schloß und Gefängniß eine ungewöhnlich reiche Geschichte. Wann aber die Burg gegründet worden ist, das läßt sich nicht mehr genau verfolgen. Bereits vor länger als tausend Jahren stand die Steinmasse des Donjon auf dem Felsengrunde und war schon damals – was Chillon bis in unser Jahrhundert hinein geblieben ist, – ein „Grab der Freiheit“. In Karl’s des Großen fränkischem Reiche galt Chillon als ein „Ort des Schreckens und der Einsamkeit“. Später war es eine Burg der streitbaren Bischöfe von Sitten; von ihnen ward es gegen andere Ländereien an die Bischöfe von Genf abgetreten, bis es im dreizehnten Jahrhundert mit dem größten Theile der burgundischen Schweiz in den Besitz Peter’s, Herzogs von Savoyen und Grafen von Piemont, gelangte. Die Geschichte hat diesem Fürsten den stolzen Namen „Der kleine Karl der Große“ beigelegt. Wie sein Zeitgenosse, der um fünfzehn Jahre jüngere Graf Rudolf von Habsburg, im deutschen Helvetien, ebenso entschieden gebot Peter im romanischen und bevölkerte die unterirdischen Verließe von Chillon mit neuen Märtyrern der Freiheit, bis ein endlicher Friede die Grenze zog zwischen seinem Gebiete und dem der Bischöfe von Sitten. Auch einen späteren Kampf gegen Rudolph von Habsburg bestand er siegreich.

Glänzendere Tage hat Chillon niemals gesehen, als unter Herzog Peter. Er hatte der Veste im See vor allen seinen vielen Schlössern seine Neigung zugewandt, hatte sie zu dem weitläufigen Bau umgeschaffen, so ziemlich, wie er heute steht, zum Kriegsarsenal seines Reiches gemacht, mit Wurfmaschinen und Belagerungsgeräthen, mit Bogen und Pfeilen angefüllt, mit einer starken Besatzung ausgerüstet und zugleich einen Hofhalt darin errichtet, wie seine Zeit nur wenige gleich prachtvolle kannte. Auf seinem Lieblingssitze im Anblicke des Leman und der penninischen Alpen zu sterben, war ihm aber nicht vergönnt; auf der Rückkehr von Italien, wohin ihn eine neue Fehde gerufen hatte, ereilte ihn der Tod in der Burg Pierre-Châtel am Einfluß der Isère in die Rhone.

Noch Jahrhunderte lang herrschten seine Nachfolger über

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