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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

lange Jahre das Brod auf dem Dierkhof gegessen – und ich meine, es ist Dir recht gut bekommen, das Judenbrod – und nun lässest Du die alte Frau in ihrer Sterbestunde allein – geh’ heim, und lies das Capitel vom barmherzigen Samariter!“

Sie wandte sich um und ging in das Haus hinein.

Recht hatte sie, vollkommen Recht! Bei jedem Worte wurde es mir so leicht, als hätte ich selber gesprochen und meiner Erbitterung Luft gemacht. Ich war tief empört, und doch dauerte mich der arme Sünder, wie er ganz zerknirscht, mit niedergeschlagenen Augen an der Schwelle stehen blieb und sich nicht in das Haus hineintraute. … Wie war es nur möglich? Dieser Mensch mit der kinderweichen Seele, der kein Thier leiden sehen konnte, er zeigte plötzlich eine dunkle Stelle in seinem Gemüth, eine unbegreifliche Härte und Erbarmungslosigkeit, und glaubte sich dazu auch noch völlig berechtigt, ja förmlich autorisirt gerade – als Christ!

„Heinz, Du hast einen sehr schlechten Streich gemacht!“ schalt ich in hartem Ton.

„Ach, Prinzeßchen, wem soll man’s denn nun recht machen?“ seufzte er auf, und Thränen funkelten in seinen Augen. „Todsünde gegen den lieben Gott soll’s sein, wenn man dem Pfarrer nicht gehorcht, und nun meint Ilse, ich sei ein schlechter Kerl, weil ich ihm folge.“

„Ilse trifft immer das Richtige – das hättest Du doch wahrhaftig wissen sollen,“ sagte ich. Die Strenge, die ich mir vorhin erlaubt, gelang mir nicht mehr. So unreif ich auch noch im Denken war, das sah ich doch ein, die Grausamkeit wurzelte auch nicht mit einem Fäserchen in seiner Seele selbst, sie war ihm systematisch eingeimpft worden – abscheulich!

Meine Augen schweiften unwillkürlich über den Himmel – mir graute nicht mehr vor dem vielen Licht, das nun gekommen war; es floß wie milder Balsam in mein gepreßtes Herz, und ich begriff zum ersten Mal, nachdem ich heute Nacht dem Tod in die düsteren Augen gesehen, die Wunderverkündigung des Auferstehens.

Ich nahm Heinzens Rechte zwischen meine Hände. „Hier im Hofe kannst Du doch nicht stehen bleiben,“ sagte ich. „Komme nur mit mir herein – Ilse wird schon wieder gut werden und meine liebe, arme Großmutter – die hat Dir längst verziehen; sie ist im Himmel!“

„Weiß es Gott, wie leid mir die alte Frau thut!“ murmelte er und ließ sich wie ein Kind auf den Fleet führen.

Draußen im Baumhof stand Ilse; sie hatte den Eimer unter den Brunnen gestellt und hob eben den Schwengel; aber beim ersten Aufkreischen desselben ließ sie ihn mit kreideweißem Gesicht wieder sinken.

„O, Herr Jesus, ich kann das nicht mehr hören!“ stöhnte sie auf.

Sie kam herein, sank auf einen Stuhl nieder und verhüllte die Augen mit ihrer Schürze. Aber das dauerte keine zwei Minuten.

„Was für ein albern Ding bin ich doch!“ sagte sie unwirsch, richtete sich straff empor und strich die Schürze über den Knieen glatt. „Möchte, wohl gar die Frau wieder da am Brunnen stehen sehen, wo sie immer ihren armen, heißen Kopf gekühlt hat, und sollte doch Gott danken, daß sie drin still liegt und erlöst ist von dem vielen Jammer.“

„Ilse, war Christine an dem vielen Jammer schuld?“ fragte ich schüchtern.

Sie sah mich scharf an. „Ach so,“ sagte sie nach kurzem Besinnen, „Du hast’s ja heute Nacht mit angehört – nun, da magst Du’s wissen, sie hat so viel Jammer über Deine Großmutter gebracht, wie es eben nur eine ungerathene Tochter kann.“

„Ach, mein Vater hat eine Schwester?“ rief ich überrascht.

„Eine Stiefschwester, Kind. … Deine Großmutter war zuerst an einen Juden verheirathet, der ist jung verstorben – die Christine hat dazumal noch in den Windeln gelegen. Nach zwei Jahren hat die Großmutter sich und das Kind taufen lassen und ist Frau Räthin von Sassen geworden – nun weißt Du Alles –“

„Nein, Ilse, noch nicht Alles – was hat die Christine verbrochen?“

„Sie ist heimlich entwischt und unter die Komödianten gegangen –“

„Ist das so schlimm?“

„Das Durchbrennen freilich – das solltest Du doch selber wissen – was aber die Komödianten betrifft, da kenne ich keinen Einzigen und kann nicht sagen, ob sie schlimm oder recht sind. – Bist Du nun fertig?“

„Ilse, sei nicht böse,“ sagte ich zögernd, „aber Eines möchte ich Dir noch sagen – diese Christine ist doch sehr unglücklich, sie hat ihre Stimme verloren.“ –

„So – Du hast den Brief gefunden und ihn gelesen, Lenore?“ fragte sie in ihrem eisigsten Tone.

Ich nickte stumm mit dem Kopfe.

„Und Du schämst Dich nicht?“ schalt sie. „Mir machst Du Vorwürfe, weil ich in den schweren Stunden meine Pflicht und Schuldigkeit thue, und in dem gleichen Moment guckst Du in fremde Briefe, die Dich auf der Gotteswelt nichts angehen! – Das ist so gut wie Diebstahl – weißt Du das? … Uebrigens glaube ich kein Wort von dem ganzen geschriebenen Zeug; und damit gieb Dich zufrieden!“

„Nein, das kann ich nicht! … Sie dauert mich! Wirst Du ihr wirklich nichts schicken? … Ach Ilse, ich bitte Dich –“

„Nicht einen Pfennig! … Die hat mehr als ihr Erbtheil vornweg genommen in der Nacht, wo sie heimlich aus dem Hause gegangen ist – das hat auch in dem armen Kopf da drinnen gewühlt –“

„Meine Großmutter hat ihr verziehen, Ilse –“

Ich müßte das erst lernen! Das kann wohl eine Mutter, noch dazu, wenn sie schon fast nicht mehr auf der Erde ist; aber Unsereinem, der das Elend jahrelang mit angesehen und redlich mitgetragen hat, dem wird’s schon saurer. … Gelt, nimmst Alles für baare Münze, was in dem Briefe steht? … Ja, ja, auf den Knieen kömmt sie gerutscht, aber nicht etwa, weil sie Verzeihung will – Gott bewahre! – ohne die hat sie lange Jahre draußen gelebt, und ist es recht gut gegangen – Geld will sie! … Das liebe Geld! Darum ist’s freilich der Mühe werth, auf die Kniee zu fallen!“ –

Wie tief mußte ihr dies Alles gehen, daß sie so heftig und bitter und so anhaltend sprach, die schweigsame Ilse!

„Kannst bei der Gelegenheit auch erfahren, weshalb Deine Großmutter das Geldgeklapper nicht hören konnte,“ fuhr sie, tief Athem schöpfend, fort. „Es kann Dir nicht schaden, wenn Du erfährst, wie viel Unglück oft an solchen leidigen Thalern hängt, wie Du sie gestern zum ersten Mal in Deinem Leben gesehen hast. … Deine Großmutter ist die reichste Frau in Hannover gewesen – ihr erster Mann hat ihr volle Kisten und Kasten hinterlassen. … Nachher bei der zweiten Heirath – sie mochte den Mann eben zu gut leiden – da hat sie die größten Opfer gebracht, ihren Glauben hat sie hingegeben; den durfte sie nicht mitbringen – mit dem jüdischen Geld nimmt man’s nicht so genau. Es hat auch gar nicht lange gedauert, da ist’s ihr klar geworden, daß es dem Zweiten nicht im Geringsten um ihre Liebe zu thun gewesen ist – ihre Capitalien aber sind mit der Zeit nur so nach allen vier Winden verflogen – der hat’s verstanden!“

„Das war mein Großvater, Ilse?“

Das prächtige Carminroth erschien plötzlich in seiner ganzen früheren Gluth auf Ilse’s Backenknochen.

„Siehst Du, da lässest Du Einem keine Ruhe und fragst das Blaue vom Himmel herunter, und nachher kommen solche Dinge zum Vorschein!“ schalt sie ärgerlich und stand auf. „Aber das sage ich Dir, mit der Christine kömmst Du mir nicht wieder – die ist todt für mich, das merke Dir, Kind! … Brauchst auch gar nicht mehr an die Verlogene zu denken – das sind Dinge, die nicht in Deinen jungen Kopf passen!“

Sie schob Heinz, der sich demüthig und schweigend auf seinen Stuhl gesetzt hatte, eine Tasse hin und schenkte ihm Kaffee ein; aber einen Blick erhielt er noch nicht. Dann ging sie wieder hinaus an den Brunnen. Ich sah, wie sie die Zähne zusammenbiß, als sie den Schwengel hob, aber das mußte ja sein! Der Wasserstrom schoß unermüdlich nieder, bis der Eimer gefüllt war.

Nein, und wenn Ilse auch immer das Richtige traf, darin konnte ich ihr doch nicht folgen. Denken mußte ich an die unglückliche Sängerin! Sie war ja meine Tante! Meine Tante! Das klang süß und wohlthuend, aber doch viel zu gesetzt für das reizende Gebild, das mir vorschwebte. … Und doch – sie war

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