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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


langjährigen Abwesenheit des Landgrafen die Klage, daß dieser, „durch schreckhafte Eindrücke in der Kindheit verwöhnt, das große Schloß zu Darmstadt bei Nachtzeit zu graulich gefunden habe.“ Es ist dies nämlich eine der Geisterresidenzen der weißen Frau, die hier auch als Hüterin des vergrabenen Schatzes eines Baumeisters auftritt, welcher vor der Vollendung des Schlosses die Flucht ergriffen habe. Da soll nun des Landgrafen Vater, Ludwig der Achte, zu Protokoll gegeben und beschworen haben, daß der Geist ihm den Schatz gezeigt, jedoch bedeutet habe, erst sein Sohn könne denselben heben. Auf unsern Pirmasenzer als ihren Erlöser und Heber des Schatzes berief sich die Erscheinung mit großer Beharrlichkeit immer wieder. War es ihm geglückt und hatte er mit dem gewonnenen Schatze sein Pirmasenz geschaffen, oder fürchtete er sich vor der Rolle, zu welcher ihn die weiße Frau berufen hielt? Die Volkstradition in Darmstadt scheint Letzteres annehmen zu wollen, denn sie behauptet: ihm habe des Vaters Entschlossenheit, dem Geiste zu folgen, gefehlt, und da er von den Erscheinungen gewußt, habe er niemals eine Nacht im Darmstädter Schlosse zubringen wollen, sondern in Pirmasenz seinen Wohnsitz aufgeschlagen. – Was an dieser Begründung einer schwer empfundenen Idiosynkrasie Wahres sein mag, bleibe dahingestellt. Mein Pirmasenzer Gewährsmann theilt mir eine beglaubigte Anekdote mit, welche den Landgrafen in ganz anderem, helleren Lichte erscheinen läßt.

Als das einfache Schloß zu Pirmasenz fertig war, stellte sich auch bald die Ahnfrau der Landgrafen dort ein. Das Gerücht, daß sich Abends in den Corridoren die weiße Frau sehen lasse, war bald allgemein. Wachen hatten beobachtet, wie sie den Gang entlang schwebte, Lakaien schworen darauf, daß sie im Schlosse spuke. Auch dem Landgrafen kam die Sache zu Ohren, und er nahm sie schweigend hin. Nach einiger Zeit jedoch äußerte er bei der Tafel, daß er nun auch Gelegenheit gehabt habe, die weiße Dame zu sehen, und erbot sich zugleich, den Geist seinen Kammerherren und Höflingen zu zeigen. Zu dem Ende wurden diese von dem Landgrafen für den Abend eingeladen. Nachdem Alle versammelt waren, führte er sie mit geheimnißvoll schauriger Miene auf den langen Corridor und deutete nach dem entgegengesetzten Ende desselben, indem er Jeden einzeln herbeiwinkte.

„Sehen Sie? Sehen Sie?!“

„Ja, Eure Durchlaucht, ja!“ war die Antwort.

So hatte Jeder zugegeben, den Geist genau gesehen zu haben, den ihnen ihr Herr gezeigt, bis dieser auch zu dem alten stotternden Hauptmanne Menert kam. Der sprach trocken:

„Durchlaucht, isch kann nischt sehen! Isch kann immer nischt sehen!“

Drauf klopfte ihm der Landgraf[1] auf die Schulter und sagte:

„Ich auch nicht, lieber Menert. Diese Herren sind lauter Jabrüder!“

Seitdem ließ sich die weiße Frau im Schlosse zu Pirmasenz nicht wieder sehen. Entweder war sie damit von Landgraf Ludwig dem Neunten wirklich erlöst, oder sie hatte ihren Zweck erreicht an dem Orte, wo die Dinge rasch ihrem Ende entgegenreiften.

Die Vorgänge im benachbarten Frankreich machten dem alten Herrn, der eben noch den Beginn der neuen Epoche erlebte, mancherlei Beklemmungen und er war scharfsichtig genug, eine weitergehende Bedeutung in ihnen zu finden.

„Da kochen sie jetzt in Frankreich eine Suppe, die ich nicht mitessen möchte,“ pflegte er zu seiner Umgebung zu äußern.

Der Tod meinte es gut mit dem alten Herrn und löste ihn im April 1790 von der Wache dieses Lebens ab. Wäre er von den nachsetzenden französischen Chasseurs aus seiner lieben, selbstgebauten Residenz verjagt worden, wie sein Nachbar, Herzog Karl von Zweibrücken, und hätten die Neufranken seinen Grenadieren die Zöpfe abgeschnitten, so würde ihm das Herz darüber gebrochen sein, geschweige denn, daß er die Empörung seiner Dörfer südlich von Pirmasenz, welche sich vor allen anderen der französische Republik anschlossen, und dann die Noth seiner Soldatenstadt hätte überleben können.

Zu der heißen Revolutionssuppe wurde also Ludwig der Neunte nicht mehr geladen, aber seine verwaisten Pirmasenzer mußten sie mitessen. Die Residenz der Landgrafen war wieder nach Darmstadt verlegt, während in den Aemtern des Elsasses die Revolution ihren Fortgang nahm und die landgräflichen Wappen entfernt wurden. Jetzt setzten auch die Gebirgsbauern südlich von Pirmasenz Freiheitsbäume, steckten die dreifarbigen Cocarden auf, theilten sich in das Holz der Forste und kamen vierhundert Mann stark nach Pirmasenz, wo sie unter mancherlei Gewaltthaten ebenfalls den Freiheitsbaum aufpflanzten. Das waren aber nur die Anfänge der Leiden, welche die unglückliche Stadt treffen sollten. Nach vorübergehendem Erfolg der Preußen kamen die Franzosen wieder, Plünderung auf Plünderung folgte, und man muß den Bericht des Volksrepräsentanten Becker in den Acten des Convents nachlesen, um einen Begriff von den Drangsalen zu erhalten, die Pirmasenz mit seinen pfälzischen Schwesterstädten von der Ausleerungscommission zu Landau erduldete.

Es lag in den Verhältnissen, daß der Krieg Pirmasenz härter mitnahm als jede andere Stadt, denn sobald der Born ihres Glückes und Glanzes mit dem Leben des Landgrafen versiecht war, versagten all die seitherigen Hülfsquellen, da sie keine in sich selber hatte. Sie mußte ihre gleichsam unmotivirte Existenz jetzt schwer büßen, wenn nicht gar einbüßen. Nicht gestählt durch anstrengende Arbeit mußten die verwöhnten Schoßkinder fürstlicher Laune durch den jähen Wechsel von unverdientem Glücke zu unverdientem, tiefstem Elende gelähmt und betäubt werden, aller Kraft ermangeln, der hereinbrechenden Noth zu steuern. Die Hälfte der Bevölkerung stob noch schneller davon, als sie gekommen war. Die Zurückgebliebenen schleppten ihre großen Grenadierleiber hungernd in den verödete Straßen umher, wo das Schloß und das Exercirhaus abgebrochen worden waren, während auf dem Exercirplatze die Gänse weideten, wie noch heute. Und dann vollendete das Hungerjahr 1817 das Elend. Um jene Zeit sandte die heruntergekommene Landgrafenstadt so viel bettelndes und vagabundirendes Gesindel über die Pfalz aus, daß Pirmasenz in den übelsten Ruf kam. „Pirmasenzer“ war ein Schmähwort geworden, wie es heute noch der Name „Matzenberger“ aus ähnlichen Gründen ist, da das weithin auf einer Berghöhe zerstreute Dorf Matzen- oder Carlsberg eben auch eine unglückliche Schöpfung des vorigen Jahrhunderts und zwar die eines Leininger Grafen ist.

Aber heute ist „Pirmasenzer“ kein Schimpfwort mehr, und das ist das alleinige und ureigene Verdienst der Bevölkerung selbst. Nach einem schweren, harten Verzweiflungskampfe um’s Dasein ist es ihr, auch ohne die natürlichen Hülfsquellen anderer Städte und heute noch fern von jeder Bahnlinie, dennoch gelungen, auf eigenen Füßen zu stehen. Im Laufe eines halben Jahrhunderts haben die Pirmasenzer nicht blos einen sterilen in einen wohlbebauten ergiebigen Boden verwandelt, sondern sich auch industriell reichlich fließende Nahrungsquellen eröffnet und eine Existenz geschaffen, die nicht mehr von der Gunst eines Einzelnen abhängt und die Stadt hinter keiner ihrer Schwesterstädte mehr zurückstehen läßt.

Jedermann kennt die Pirmasenzer Schuhe. Der Handel mit ihnen begann etwa im Jahre 1809 oder 1810 auf Anregung eines gewissen Joß, der später nach Straßburg übersiedelte. Er hatte einige Schuhpaare fertig und konnte sie in der heruntergekommenen Vaterstadt nicht verwerthen. So schickte der Arme denn seine Frau mit denselben in die preußische Rheinprovinz, und als sie bald mit schönem Gelde zurückkehrte, wurde der Handel auch ferner und etwas eifriger betrieben. Nun griffen auch andere Schuhmacher die Sache auf, bezogen die Messen zu Mannheim, Frankfurt am Main, Darmstadt, Karlsruhe, Heidelberg und hatten schönen Erlös. Sobald der Handel ein wenig im Gange war, ersahen auch Andere, die nicht des ehrsamen Handwerkes waren, den Vortheil und ließen Schuhe in den Häusern machen. An arbeitenden Kräften fehlte es nicht, die Kunst war leicht und schnell erlernt, und so gab es im Anfange der zwanziger Jahre schon eine Menge Schuhmacher in der Stadt. Das Geschäft wurde nicht fabrikmäßig, sondern von einzelnen Meistern, welche die zugeschnittenen Schuhe in die Häuser gaben, betrieben. Darauf gründeten sich nun allerlei neue Nahrungszweige. Die Einen nähten, Andere bändelten die Schuhe ein, wieder Andere trugen sie auf die Jahrmärkte, während der Ausverkauf ebenfalls durch eigene Händlerinnen besorgt wurde. Damals fielen schon auf allen Messen am Rhein die lebhaft dreinblickenden, sonnverbrannten oder sommersprossigen Pirmasenzer Schuhmädchen durch ihre schlanken, hohen Gestalten auf, wie denn auch der Kleinhandel meist heute noch in weiblichen Händen liegt.

Es kann hier nicht der Ort sein, die Entwicklung des Pirmasenzer Schuhhandels, wie er sich allmählich über die großen baierischen

  1. Vorlage: „Laudgraf“
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_539.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)