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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Tiras, ein schöner, großer, starker englischer Wasserhund. Tiras war ein prächtiges Thier, klug, discret, tapfer und von einer rührenden Treue, die nur einmal nicht Stand hielt, als ihn die Liebe zu einer schönen Hündin im Besitze des Fürsten L.-E. fesselte, der zu Gefallen er sich von mir trennte. Dicht neben uns, die wir am Ende eines langen, düsteren Corridors wohnten, logirte ein alter, eisgrauer Jude, der den sonderbaren Namen Katzenellenbogen führte. Er war aus Lemberg in Galizien, ein kleines, vertrocknetes Männchen, in schwarzseidenem glänzendem Talar, der immer nach Zwiebeln roch, und trieb einen Handel mit Juwelen und feinem Pelzwerk. Er hatte seinen Wohnsitz im blauen Karpfen, (so hieß früher die Rauchwaarenhalle) genommen und schien viel Geld zu verdienen, lebte aber dabei äußerst sparsam. Wenn ich noch erwähne, daß dieses interessante Gebäude einen immer trunkenen Hausmann hatte und daß die Rauchwaarenhalle insofern dem Meere ähnelte, als sie Ebbe und Fluth hatte, so habe ich Alles erwähnt, was zu seiner Charakterisirung nöthig ist. Die Ebbe trat nach den Messen ein, zu welcher Zeit immer einige der Zimmer leer standen; während der Messe aber war Hochfluth und die Rauchwaarenhalle von Passagieren überfüllt wie ein portugiesisches Sclavenschiff …

Auf derselben Seite des Brühls, nur am obersten Ende, unweit des alten Stadttheaters, lag ein anderes in seiner Art auch eigenthümliches Local: das Café chinois. Es existirt heute ebensowenig mehr als die Rauchwaarenhalle in ihrer früheren Gestalt, und wir können daher von dem Local mit jener objectiven Unbefangenheit sprechen, die der Geschichtserzähler nicht entbehren kann, wenn er treu schildern will. Das Café chinois war damals ein Ort, der in gewisser Beziehung an den Eingang der Hölle in Dante’s „Göttlicher Komödie“ erinnerte. Jedem der hier arglos Eintretenden hätte man zurufen mögen: „Die Ihr hier eintretet, lasset Eure Portemonnaies draußen!“ Außer einigen Studenten, die sich abgeschlossen von der übrigen Gesellschaft hielten, verkehrten in dem Café meistens Männer mit feinem Rock und durchlöchertem Gewissen, Spieler, Wüstlinge, reiche Müßiggänger, zu welchen sich einige wenige Schauspieler gesellten. Wehe dem Unerfahrenen, der in die Hände der Spieler dieses Cafés fiel, die hier in mitternächtiger Stunde Bank hielten! Er konnte sicher sein, beim Nachhausegehen den Groschen nicht mehr zu haben, den er seinem Portier für das Aufschließen der Thür geben mußte! Glücklich, wenn er dann einen Hausmann besaß wie der durstige Flickschuster in der Rauchwaarenhalle war, der sich in der Regel Abends gegen acht Uhr in Branntwein betrank und das Zuschließen vergaß …

Es war also im November 185* zur Zeit der Ebbe in der Rauchwaarenhalle. Leer und öde standen die Zimmer in unserm langen, düstern Corridor; Tiras hatte Platz für die Rattenjagd, die er öfters in diesem Gange trieb. Wir und der kleine alte Katzenellenbogen, der Juwelen- und Pelzhändler mit den eisgrauen Löckchen, die unter der runden schwarzen Sammetkappe hervorquollen, waren jetzt die einzigen Miethsleute. Ich brachte die langen Abende meistens allein zu Hause zu, Pandekten studirend, während Freund Georg entweder auf die Kneipe oder in’s Theater und von da in’s Café chinois ging, wo sich, wie schon oben bemerkt, ein kleiner studentischer Kreis, den literarische Zwecke verbanden – sie nannten sich die Pleißenbündner – mehrmals in der Woche versammelte. So saß ich auch eines Abends allein bei der Lampe, von der Pfordten’s Pandektenheft vor mir, das ich in jenem schönen Sommercollegium nachgeschrieben, in welchem der spätere königlich bairische Premierminister noch ein bescheidener Professor in Leipzig war. Tiras saß in der Nähe des Ofens, den großen, dicken, braunen Kopf auf den Teppich gestreckt, den er nur erhob, wenn eine nachzüglerische Fliege, die dem Herbst noch nicht zum Opfer gefallen, zudringlich seine Ohren umsummte. Es war ein schöner, ruhiger Abend, kalt und neblig, aber trocken, der Himmel leicht bewölkt und vom Neumond schwach beleuchtet. Von den Berlin-Magdeburger und Dresdener Bahnhöfen schrillte das Pfeifen der ankommenden Dampfzüge herüber. Das war aber auch das einzige Zeichen des Lebens, welches ich hörte. Sonst war Alles still und öde um mich her. Diese Ruhe, die Wärme des Zimmers, vielleicht auch das Studium der Servitutenlehre übten schließlich eine einschläfernde Wirkung aus. Ich hörte noch, daß es elf Uhr schlug, ich vernahm noch das Pfeifen der Locomotive, die den letzten Dresdener Zug brachte, und dann schlief ich mit Tiras um die Wette. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, aber plötzlich weckte mich ein wüthendes Gebell; ich fahre empor, meine Lampe brennt düster glimmend und vor mir steht ein großer Mann mit blassem Gesicht, schwarzem Haar und Locken, den bloßen, weißen, kräftigen Nacken von einem rothen Hemde umschlossen, über welches er einen Pelz geworfen hatte, eine Kerze in der Linken, während er sich mit der Rechten mühsam des Hundes erwehrte, der seine Tatzen auf seine Schultern gelegt und ihn gestellt hatte. Sobald der Hund mich wieder sah, verstummte sein Gebell und seine großen braunen Augen richteten sich wie fragend auf mich: „Soll ich dem Menschen da die Gurgel zerreißen?“ Auch der Fremde war über die Attaque in zorniger Aufregung, seine Augen schossen einen zornigen Wuthblick auf den Hund. Ich rief Tiras zurück; knurrend legte er sich zu meinen Füßen.

Der Fremde entschuldigte sich wegen seines nächtlichen Eindringens in das Zimmer in fremd klingendem, aber ganz gut verständlichem Deutsch. Er sei in der Nacht angekommen mit seiner Frau. Die Signora – er gebrauchte dann immer diesen Ausdruck, wenn er von ihr sprach – sei krank geworden; er habe den Wirth herausgeklingelt, der habe ihm gesagt, daß nebenan in Nr. 14 ein Doctor wohne, und nun komme er und bitte um Beistand. Die letzten Worte sprach er zögernd und mit einem zweifelnden Blick. Er hatte sich jedenfalls einen weniger jugendlichen Arzt vorgestellt und zum Ueberfluß hatte er sich in mir geirrt; der Wirth, welcher jeden bei ihm länger als ein halbes Jahr wohnenden Studenten zum Doctor avanciren ließ, hatte Georg gemeint, der immer noch nicht zu Hause war. Da hörte ich Schritte auf dem Gange und Herrn von Mühler’s, des Cultusministers, lustiges Lied; „Grad’ aus dem Wirthshaus komm’ ich heraus, Straße, wie wunderlich siehst du mir aus.“ Das war Georg.

„Das ist der Doctor …,“ sagte ich lächelnd zu dem Fremden, den Georg überrascht anblickte. Ein paar Worte erklärten meinem Freunde die Sache.

„Ach,“ lachte er, „was wird es weiter sein? Ihre Frau Gemahlin wird sich erkältet haben in den luftigen, ungeheizten Coupés. Hier haben Sie etwas Rum und meine Kaffeemaschine, da ist Zucker, brauen Sie der Patientin ein Glas Grog, und ich versichere Ihnen, sie wird morgen gesund wie ein Fisch sein.“

Der Fremde nahm die sonderbare Arznei, bedankte sich höflichst und ging.

„Ein eigenthümlicher Kauz,“ sagte Georg, als sich die Thür hinter dem Fremden geschlossen hatte, und durchschritt dabei lebhaft das Zimmer, mit einem Mensurschläger Lufthiebe austheilend, „er hat ein Gesicht, das zum Aufbrummen förmlich einladet. Diese giftigen schwarzen Augen, dieser höhnische Zug um den Mund, und doch liegt auch eine gewisse Schönheit in dem blassen Gesicht …“

„Aber diese niedrige Stirn und das hervortretende Kinn,“ fiel ich ein; „er sieht aus wie ein verkörperter berühmter Criminalfall, eine cause célèbre.

„Wahrhaftig, Du hast Recht,“ lachte mein Freund, „aber neugierig bin ich doch auf Deine Signora; wenn die Herrschaften morgen noch da sind, so mache ich ihr einen Besuch und frage, wie ihr mein Grog-Recept bekommen ist. … Aber jetzt wollen wir schlafen, Du weißt doch, daß morgen Specht mit den Meißner Corpsburschen die Säbelpaukerei in Schleußig hat, und daß ich Specht secundire.“

Am andern Morgen hatten wir über der Paukerei, die in einem Gasthofssaale des Dorfes Schleußig vor sich ging und bei welcher der Corpsbursche gründlich abgeführt wurde mit einem sehr unangenehmen Schmiß quer über das Gesicht, den Fremden sammt seiner Signora vergessen und keiner von uns Beiden dachte wieder an den nächtlichen Besuch, zumal da wir auch von den Fremden weder etwas sahen noch hörten. Vielleicht drei Tage später kam Georg eines Abends in lebhafter Erregung nach Hause.

„Weißt Du, wen ich im Café chinois getroffen habe?“ rief er. „Den Fremden mit seiner Signora. Aber welch ein Weib! Doch nein, Weib kann ich sie nicht nennen, das giebt ein falsches Bild. Eine Madonna dolorosa, eine schmerzensreiche Jungfrau …“

„Genug, genug,“ unterbrach ich ihn, „ich kenne diese Uebertreibungen der Verliebten. Hast Du mit ihr gesprochen?“

„Nein, sie sah so traurig, so tieftraurig aus, daß ich sie nicht anzureden wagte. Auch mit keinem Anderen habe ich sie sprechen sehen.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_482.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)