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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


„Aber, Fräulein! Sie haben mir ja nichts gesagt von einem letzten Befehle Ihres Vaters … für mich …“

„Ich habe ihn auch erst erfahren vor drei Tagen. In dem alten Bibelbuche, in welchem er zu lesen pflegte und welches ich als ein heiliges Vermächtniß aus dem Landhause mit mir nahm, befand sich zwischen dem ledernen Einbande und dem angeklebten Titelblatte ein ein Brief, ein Brief an die Adresse meines Vaters.“ Marie Kärner schwieg. Sie hatte rasch, höflich, sehr erhitzt gesprochen.

Die Gräfin streckte ihre Hand aus und hielt das dargereichte Papier gefaßt. Sie hatte dabei sehr große Augen und wieder trockene Lippen. Aber sie zog den alten Brief nicht an sich, sondern sie mußte noch fragen: „Und in welchem Zusammenhange steht dieser Brief mit mir?“

„Das, Frau Gräfin, wird Ihnen vielleicht der Inhalt sagen.“

„Sie haben ihn also gelesen?“

„Ich mußte wohl.“

Mit diesen Worten neigte sich Marie Kärner zu der Hand der Gräfin nieder – rasch, wie unwillkürlich, und drückte einen Kuß auf dieselbe. Es glich dies seltsamer Weise keinem Acte der Demuth, sondern einer plötzlichen Regung des Edelmuthes von Seiten des jungen Mädchens; denn die Gräfin erröthete unter der Berührung bis in ihre hohe stolze Stirn hinauf.

Man sprach nur wenig mehr. Marie Kärner entfernte sich zur passenden Zeit. Die alte Gräfin und Graf Leon blickten aus dem Fenster ihrem einfachen Gefährte nach, bis es unter den wilden Kastanienbäumen der Allee verschwand. Es war ein drückend heißer Sommertag. Und doch athmete die alte Gräfin leicht und frisch. Ihre Hand lag auf ihrem Busenstreifen, welcher den alten Brief barg.

„Leon!“ rief sie. Graf Leon wandte sich bald um. Er erwachte gleichsam aus einem Traume. „Leon, willst du heute nach Tische deine Cigarre bei mir rauchen? Ich rauche mit Dir, denn sonst würdest Du nicht dazu zu bringen sein, Deine Siesta nach Gewohnheit zu halten. Du hast mich ja doch um etwas zu fragen, Leon.“

„Ich, meine liebe Mama? Ich wüßte nicht!“

Die alte Gräfin machte ein trauriges sinnendes Gesicht und sagte: „Nun, dann habe ich Dir etwas zu erzählen und Dich um etwas zu bitten.“ Sie stand dabei vor ihm in ihrer rosenrothen Mousselinwolke, mit den koketten dunklen Wellen um ihr freundliches altes Gesicht, und ihre Hand lag auf der seinigen.

Graf Leon küßte diese Hand und erwiderte einige kindlich bescheidene Worte.

Bienen und Fliegen summten um das offene Fenster. In der Küche prasselte das Feuer zum Diner unter Hackebegleitung. Der Kammerdiener Loj meldete mit einer Verbeugung, die Kammerjungfer Gusta wünsche sehnlich eine hochgnädige Aufklärung über das Zickzack einer neuen Kleiderfalbel für den Nachmittagsausfahranzug. Ein weißer Schmetterling verirrte sich für einige Secunden in das Zimmer. Das stille Schloß war so alltäglich und gewöhnlich wie immer.




7. Das Samenkorn des Geheimnisses.

Als Leon Stasingen Nachmittags in das Zimmer seiner Mutter trat, fand er dieselbe seiner wartend. Sie hielt ein Buch in der Hand. Vor ihr auf dem Tische lag neben einem Vasenhalse, in welchem eine schlanke sanftfarbige Irisblume welkte, der alte Brief, den an diesem Tage die verwaiste Tochter des alten Nachbars gebracht hatte.

Die geflochtenen Stroh-Jalousien des Zimmers waren halb herabgelassen und warfen flimmernde Lichtnetze auf den mit Bastmatten belegten Boden. Das Sonnenlicht ward dadurch gedämpft und die Temperatur im Zimmer behaglich. Keine Vögel sangen draußen, die Nachmittagsruhe hielt alle umfangen. Graf Leon küßte seiner Mutter die Hand und sprach von ihrem Befehle – lächelnd. Aber der Blick der Gräfin war sinnend und ernst und ein Schatten lag über ihrer Stirn wie der Widerschein eines Schmerzes oder einer Angst.

Und als dann ihr Sohn an ihrer Seite saß, legte sie für einen Augenblick ihr feines Taschentuch an den Mund und Graf Leon merkte, daß es stark nach Wohlgeruch duftete.

„Leon,“ sagte die Gräfin, „ich habe ernst mit Dir zu reden. Lange habe ich mich danach gesehnt, und habe ich mich davor gefürchtet. Es lag wie das Bewußtsein einer alten Schuld auf mir. Die eine Hälfte dieser Schuld will ich jetzt abtragen; die andere Hälfte …“ Die Gräfin schwieg einen Augenblick.

Graf Leon, verwirrt auf den Brief sehend, den seine Mutter jetzt zur Hand nahm, sagte: „Sie sind traurig, Mama!“

Die Gräfin fuhr fort: „Dieser Brief, Leon, ist ein Brief von meiner Hand, den ich vor vielen, vielen Jahren an Daniel Kärner geschrieben habe.“ Das Spitzentüchlein näherte sich wieder dem verstummenden schönen Munde, und in den Augen der alten Dame flimmerte es wie eine unterdrückte Thräne.

Leon Stasingen hatte seine Mutter nie weinen sehen. Er starrte auf. „Mama, mein Gott! Ein Brief von Ihnen an diesen Mann! Haben wir denn jemals mit diesem Hause in Verkehr gestanden? Haben unsere Familien einander jemals gekannt, oder – anerkannt?“ Die Aufregung in dem Wesen des jungen Grafen rührte vielleicht von seiner Bestürzung über den Ernst und die Traurigkeit seiner Mutter her, vielleicht auch bewegte ein anderes Erschrecken, eine andere jähe Hoffnung sein Herz.

Die Gräfin legte mit einer raschen Bewegung den Brief auf den Tisch, daß die Irisblume in dem Vasenhalse leicht erzitterte, und sagte mit gepreßter Stimme, hastig aufathmend, wie um eine Last von sich abzuwälzen:

„Höre mich an, mein Sohn. Jetzt, da das Geheimniß mit dem verstummten Munde des alten Mannes begraben ist, jetzt, da kein Hauch davon die Wände dieses alten Hauses mehr beflecken und den Lazur seines Wappens trüben kann, da das Geheimniß todt ist wie der verwehte Windhauch der Mitternacht, jetzt, wo ich froher und ruhiger sein sollte, jetzt drängt es sich gewaltsam empor aus meinem eigenen Herzen; ich muß es Dir vertrauen, wenn es mich nicht erdrücken soll. Denn ein Geheimniß ist wie ein begrabener Zauber. Erst wenn er tief genug verborgen und verscharrt ist, blüht er mächtig an’s Licht in einer geheimnißvoll nächtlichen Flamme.

Höre mich an. Unterbrich mich nicht. Als Mädchen schon liebte ich Deinen Vater – heiß, trotzig. Ich war ein verzogenes Kind, stolz und eigenwillig wie mein stolzer und eigenwilliger Vater. Wir waren herabgekommen. Mein Cousin, Graf Stasingen, war ein verschuldeter, bildschöner Officier. Er mußte die Armee quittiren wegen tausend kleinlicher Verbindlichkeiten. Das, was ich Dir jetzt erzählen will, wollte Dein Vater im Sterben beichten. Die Angst und das Gewissen hoben ihm die Brust wie ein Krampf und ließen ihn nicht sterben. Als er aber dem Priester seine Lippen öffnen wollte, schloß ich ihm dieselben mit einem Kuß der Angst und der Drohung. Ein Priester ist doch nur ein Mensch – es giebt Stunden, wo er trinkt. Dein Vater durfte das nicht beichten. Um ihm die Angst zu verscheuchen, gelobte ich ihm in’s Ohr, für ihn zu beichten – Dir zu beichten. Dein Vater starb da mit freierem Athem. Ich vollbringe jetzt diese Pflicht.

Ich liebte also deinen Vater, meinen Cousin, diesen quittirten verschuldeten Officier, bis – bis zum Heirathen. Aber wie heirathen? Er hatte Gläubiger, die ihm Straßenkoth nachwarfen, und ich und Papa waren im steigenden Sinken. – das war ein Sinken ohne Ende, – Das ‚Verlorensein‘ in Geldsachen giebt einen merkwürdigen Leichtsinn. Eines Tages sagte mir mein Cousin: ‚Adalie, der junge reiche Nachbar hier, der Daniel Kärn, oder wie er heißt, der heute bei uns seine Visite gemacht hat, ist ein kleiner Crösus; er hat einen Stall voll der schönsten Reitpferde, er führt Grooms und Jockeys. Wir können da ersparen, wenn wir manchmal seine Wagen zu Schanden fahren und seine Pferde reiten. Die unsrigen werden ja bald der … Restaurirung bedürftig sein. Mache, daß er sich in uns vernarrt.‘ Ich lachte über die Rede – sie kam mir echt französisch-bohèmenmäßig vor, und das hatte seinen Reiz. – Ich – machte, daß der junge Kaufmannsnabob sich in uns … in mich vernarrte. Die Söhne ehemaliger reicher Wirthsleute, Kaufleute und Fleischhacker glauben ja, uns gleich zu werden durch Goldsachen, Pferde und neue Stiefelchen. Sie nehmen unsere ironische Unterthänigkeit für Anbetung und Verblüfftsein. Sie erkennen nicht, daß ihre Goldketten wie plumpes Silber anmuthen, und ihre Brillantringe wie bleierne Jahrmarktsringelchen durch die Bewunderung, die sie selber diesen Dingen zollen. Daniel Kärner, ein ehrlicher, hübscher, goldkettenbehängter, diamantberingter, nach Gold unausstehlich riechender, braver junger Mann verliebte sich in mich. Und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_466.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)