Seite:Die Gartenlaube (1871) 338.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.
Nr. 4. In französischen Quartieren.
II.


Was ich den Lesern der Gartenlaube hier mitzutheilen beabsichtige, ist durchgängig sehr unschuldiger Natur, und ich kann durchaus nicht, wenn ich bei der Wahrheit bleiben will, große Heldenthaten, haarsträubende Mordgeschichten u. dgl. erzählen. Die letzterlebte Zeit ist aber ohne Frage so gewaltig und großartig gewesen und hat mit so mächtiger Hand in die Fugen der Geschichte eingegriffen, daß wohl jede, selbst die geringste Kleinigkeit interessant und des Lesens werth ist. Zu Allem aber darf ich mir vielleicht auch mit der Hoffnung schmeicheln, daß meine Mittheilungen und Erfahrungen als Ergänzungen früherer Schilderungen dienen können, welche die Gartenlaube bereits aus anderer Feder gebracht hat.

Wirklich activ mitwirkend ist der Truppentheil, bei dem ich stand, im Ganzen nicht gerade oft gewesen, mein Regiment hat aber dafür Gelegenheit gehabt, fast den ganzen Osten Frankreichs gründlich kennen zu lernen, da es auf immerwährenden Streifzügen in die Kreuz und in die Quere begriffen war; es wird sich kaum ein Städtchen oder eine Stadt finden, wo wir nicht kurze oder lange Zeit in Quartier gelegen und in deren Umgebung wir nicht bald Weg und Steg kannten; natürlich habe ich, bei diesem ewigen Hin- und Herziehen, eine Menge von Quartieren kennen gelernt, bin mit den verschiedensten Charakteren in Berührung gekommen, und kann daher ein wenigstens einigermaßen richtiges Urtheil über die Grundzüge in dem Charakter des französischen Volkes in den Provinzen abgeben. Die Schilderungen des französischen Volkes, die man am häufigsten liest, sind fast alle mehr oder weniger übertrieben; man hat sich zum Schaden der Provinzen daran gewöhnt, zu sagen: „Paris ist Frankreich.“ Dies ist durchaus nicht der Fall. Ein Jeder, der eine Zeit lang in Paris und dann in den Provinzen, dem eigentlichen Frankreich, unter dem Kern des französischen Volkes gelebt hat, wird wissen, wie grundverschieden Paris und Frankreich ist.

Das Volk in Frankreich hat durchgängig mit sehr wenigen Ausnahmen einen gutmüthigen, gemüthlichen, vor preußischen Pickelhauben allerdings sehr besorgten Charakter; Religiosität oder kirchlicher Sinn ist bei den Männern sehr schwach oder gar nicht zu finden, und dennoch besitzen die Mönche und Jesuiten einen ungeheuern Einfluß, nämlich durch die Frauen; die Männer wissen dies sehr gut, aber trotz ihres Nihilismus, trotz ihres Kirchenhasses können sie sich diesem Einflusse nicht entziehen. Diesen Priestern – es sind ihrer in jedem Dorfe wenigstens drei oder vier zu finden – hatte die deutsche Armee es auch zu verdanken, wenn sie in ganz Frankreich von Jedermann mit einer wirklich kindischen Furcht erwartet wurde; um so anerkennungswerther war es daher, wenn diese Furcht, je länger unsere Truppen in Frankreich waren, immer mehr und mehr schwand, um in manchen Gegenden einem gewissen Freundschaftsgefühl Platz zu machen.

Ich weiß mich keines Quartiers zu entsinnen, in dem unser Abmarsch nicht ein aufrichtiges Bedauern verursacht hätte, und dieses wurde, je länger wir in einem und demselben Quartier weilten, desto stärker, obwohl die gegentheilige, freudige Empfindung doch nur sehr natürlich gewesen wäre. Man sah uns sehr ungern kommen, aber man sah uns ebenso ungern scheiden. Ich entsinne mich noch lebhaft eines Quartiergebers, bei dem dies Beides ganz besonders der Fall war. Es war ziemlich am Ende des Feldzuges, als ich Befehl erhielt, mit meiner Compagnie das Dorf Vébilleau zu besetzen. Nach einem angestrengten Tagesmarsch erreichten wir unsern Bestimmungsort und hatten nichts Eiligeres zu thun, als unser Quartier aufzusuchen, um unsere müden Glieder endlich einmal wieder durch eine ordentliche Siesta erquicken zu können. Ich mit noch einigen Cameraden hatte mein Quartier bei dem Maire des Dorfes genommen, der als alter Capitain der französischen Armee den Sturm auf den Malakoff mitgemacht und dabei einen Arm verloren hatte; ein echter Repräsentant der grande nation. Der alte Herr residirte in einem schloßartigen Gebäude ganz allein, nur von einem alten Diener gepflegt. Es war eine stattliche imponirende Gestalt, mit mächtigem weißen Schnurr- und Knebelbarte und das Kreuz der Ehrenlegion im Knopfloch, die uns preußische Landwehrleute an dem Eingange des Hauses würdevoll und mit folgender Ansprache begrüßte:

„Meine Herren, Sie sind, wenn auch aus den traurigsten Gründen, für jetzt meine Gäste; erlauben Sie mir zu versichern, daß es mein Bemühen sein wird, es Ihnen hier an keiner Bequemlichkeit fehlen zu lassen; aber verlangen Sie nicht, daß ich, ein alter Soldat der französischen Armee, freundschaftliche Gefühle für Sie empfinden, daß ich die gerechten Gesinnungen, die ich gegen Sie hege, verbergen soll; ich werde durch Ihren Anblick stets an das Unglück meines armen Frankreichs erinnert werden.“

Und in der That, während unseres Aufenthaltes in Vébilleau hatten wir Alles, was wir nur irgend verlangen konnten; alle unsere Wünsche wurden auf’s Bereitwilligste erfüllt, kurzum wir lebten buchstäblich „wie der liebe Gott in Frankreich“; und, was das Schönste war, wir hatten die Genugthuung, unserm alten Capitain und Preußenfeind, da unser Aufenthalt von ziemlich langer Dauer war, eine so gute Meinung von uns beizubringen, daß er am Abschied sagte:

„Meine Herren, seitdem ich Gelegenheit gehabt habe, Sie als die Vertreter des deutschen Heeres kennen zu lernen, scheint mir die Schande Frankreichs, von der deutschen Armee besiegt zu sein, nicht mehr so groß, nicht mehr so sehr Schande!“

Von Vébilleau und dem Hause des alten Capitains führte mich mein Schicksal nach Vitry zu einer Wittwe in Quartier, die in genanntem Städtchen eine reizende kleine Villa mit ihren beiden hübschen Töchtern und einem weniger hübschen, aber sehr treuen Diener bewohnte. Am ersten Tage ließ sich die alte Dame gar nicht sehen, die etwaigen Wünsche und Anforderungen, die ich zu stellen hatte, wurden von dem Diener entgegengenommen und sehr prompt ausgeführt. Wie ich später erfuhr, hatte man mich in dem Zimmer der älteren der beiden jungen Damen untergebracht, es war sehr elegant möblirt und darin ein prachtvoller Flügel aufgestellt. Einer alten lieben Gewohnheit folgend, versuchte ich am dritten Tage meines Aufenthaltes in dieser reizenden Behausung seit langer Zeit zum ersten Male wieder mein musikalisches Talent in einer bekannten deutschen Volksweise. Ich mochte schon eine geraume Weile gespielt haben, und war so sehr in die Erinnerungen an längst verschwundene Zeiten und an die Lieben in der Heimath versunken, daß ich gar nicht bemerkte, wie die Thür sich öffnete und Jemand eintrat, um hinter meinem Stuhle stehen zu bleiben.

Plötzlich wurde ich durch ein leises Schluchzen aus meinen Träumereien erweckt; erstaunt aufblickend gewahrte ich ein über mich gebeugtes seltenschönes Gesicht, dessen sanfte Züge durch einen rührenden Ausdruck von Schmerz und Melancholie verklärt wurden. Im reinsten dialektfreien Deutsch bat mich die schöne Fremde, die junge Dame, der das von mir bewohnte Zimmer gehörte, das eben gespielte Lied ihr noch einmal vorzutragen; bereitwillig ging ich darauf ein, und nach einer kurzen Einleitung ging ich auf die eigentliche Melodie über. Meine schöne Gefährtin – Mademoiselle Angeline de Savigny – fiel mit einer vollen und schöngeschulten Altstimme ein, und nun zauderte auch ich nicht weiter, mein ganzes Können zusammennehmen, um mit ihr vereint das Lied zu Ende zu singen. Sehr bald hatte sich zu unserm Gesang auch ein Publicum gefunden, nämlich Mutter und Schwester von Mademoiselle Angeline und der alte Diener; alle Drei schienen von unserm Gesang seltsam bewegt zu sein. Die alte Dame suchte vergebens ihren Thränen Einhalt zu thun, und ebenso lauschte auch der alte Bertrand mit unverkennbarem Interesse. Nachdem das Lied beendet war, reichte mir meine Partnerin ohne jede Ziererei die Hand, Madame de Savigny trat auf mich zu, um mich in ihr Wohnzimmer einzuladen, da sie mir eine Erklärung ihrer mich gewiß überraschenden Bewegung schuldig zu sein glaube; „nachdem Sie,“ sagte die alte Dame, „dieses Lied, das für uns so viel schmerzliche und schöne Erinnerungen erweckt, gesungen, kann ich Sie unmöglich mehr als einen Feind meines Vaterlandes betrachten.“

Mit der größten Offenheit erzählten mir Madame de Savigny und ihre Tochter hierauf, welche Bewandtniß es mit dem Liede hatte. Es war eine traurige Geschichte von Liebeslust und Liebesleid; und während ich da saß und die sah, deren Herz schon so viel Leid erfahren, konnte ich mich eines Gefühls des tiefsten Mitgefühls nicht erwehren. – Vor einem Jahre war Angeline

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_338.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)