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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Namen. Ich werd’ gewiß den besten Gebrauch von dem Paß machen. Aber, bitt’ schön, machen Sie es den Behörden etwa eindringlich, daß sie mir Hülfe leisten, wie ich es verlange, es wird Noth thun, besonders im feindlichen Lande.“




Am einundzwanzigsten August finden wir Frau Lucca mit ihrer Kammerjungfer auf dem Anhaltischen Bahnhofe und bald braust der Zug mit ihnen dahin – die beiden Damen in der ersten Wagenclasse, den Koffer mit Wäsche und die vom Doctor mit comprimirtem Gemüse, Apfelsinen, Wein und dergleichen mehr gefüllte Kiste im Gepäckraum.

Drei Stunden ungefähr ging der Zug vorwärts ohne Unterbrechung, und Frau Lucca sprach ihre Freude darüber gegen ihre Kammerjungfer unverhohlen aus.

„Sehn Sie, Editha, wie schnell das geht! Der Doctor und auch der Herr Minister wollten mich durch ihre ausgesprochenen Befürchtungen nur von der Reise zurückhalten.“

„Wir sind noch nicht am Ziele, gnädige Frau,“ unglücksunkte die moderne Kassandra.

Ein lang gezogener greller Pfiff ertönte von der Locomotive, der Zug bewegte sich langsamer und hielt endlich an einer kleinen Zwischenstation. Die Thüren der Waggons wurden geräuschvoll geöffnet und überall hörte man die Schaffner rufen: „Herrschaften, gefälligst aussteigen! Gepäck in Empfang nehmen!“

Die Thür zum Coupé der Lucca öffnete der Bahnhofsinspector selbst, mit den Worten:

„Gnädige Frau, wollen Sie die Güte haben auszusteigen!“

„Aber warum denn aussteigen? Ich hab’ mir’s hier so hübsch bequem gemacht.“

„Da thut mir’s um so mehr leid, Ihnen unbequem werden zu müssen. Eine eben eingetroffene Depesche von Saarbrücken befiehlt hier anzuhalten und den Frankfurter Zug abzuwarten; von dem Letzteren haben wir Gefangene aufzunehmen und mit diesen nach Berlin zurückzudampfen.“

„Und wann kommt der Zug, mit dem wir weiter fahren?“

Der Inspector zog die Achseln bis zu den Ohrläppchen: „Das läßt sich mit Bestimmtheit noch gar nicht angeben.“

„Aussteigen! Aussteigen!“ tönte das Commando der Bahnhofsbeamten.

Der Inspector half der Gnädigen mit echt weltmännischer Galanterie aus dem Wagen und suchte sie nach Kräften zu trösten, daß sie voraussichtlich ein paar Stunden lang verurtheilt war, auf dem kleinen, mit Soldaten, Telegraphisten, Marketendern und allerhand zum Krieg gehörenden Volk angefüllten Bahnhof auf den Berliner Zug zu warten.

Frau Lucca mit Editha auf den Koffern sitzend suchte sich über das Peinliche der Lage mit Biscuitessen hinwegzuhelfen, als auch schon, früher als man hoffen durfte, die Stimme eines Schaffners rief:

„Da kommt der Berliner Zug!“ Die Glocke schlug an, ein heiserer Pfiff von der Locomotive und langsam rollte eine unendlich lange Wagenreihe heran und hielt. Aufspringen und dem Zuge zueilen war für Frau Lucca das Werk eines Augenblicks, während Editha als Kistenwache zurückblieb.

„Wo ist der Herr Inspector? ich muß ihn sprechen!“ rief die Sängerin mit Hast.

„Ich bin der Inspector. Was steht zu Diensten, Madame?“

„Ich hab’ zwei Personen-Billets zur ersten Classe, für mich und meine Kammerjungfer, man hat uns hier abgesetzt und auf den nächstkommenden Zug verwiesen. Wollen Sie uns gefälligst Plätze anweisen?“

„Verehrte Frau,“ erwiderte der Inspector achselzuckend, „muß sehr bedauern nicht dienen zu können. Der ganze Zug ist vollgestopft mit Pferden, Soldaten, Kanonen, Proviant und Fourage; wie Sie sehen, wird auch alles Kriegsvolk, was hier im Hause war, noch nachgeschoben, so daß selbst kein Mäuschen Raum für ein Unterkommen mehr finden würde.“

„Aber mein Herr, ich muß weiter!“ drängte Frau Lucca fast weinend.

„Wir dürfen keine Civilpersonen in diesem Zuge mitnehmen,“ beschied sie der Inspector, zwar sehr höflich, aber bestimmt. „Ueberdies habe ich nicht eine Secunde Zeit. Der Zug geht sogleich weiter.“

Er gab das Zeichen und der Zugführer ließ seine schrille Pfeife ertönen. In dieser höchsten Noth vertrat Frau Lucca dem Inspector den Weg und rief ihm zu:

„Werden Sie auch diesen Paß nicht respectiren?“

Der Inspector blickte flüchtig in den ihm dargereichten Paß, dann aber las er aufmerksam und sagte endlich, sich tief verbeugend:

„Ah! Frau Lieutenant von Rhaden? Sie wollen zu ihrem verwundeten Mann, das ist allerdings etwas Anderes; da muß Rath geschafft werden; wie und wo ich aber noch zwei Damen placiren soll, das mögen die Götter wissen!“

„Wer sitzt in jenem Wagen?“ fragte sie, auf ein Gefährt erster Classe deutend.

„Das sind die Officier-Coupés.“

„Kriegs-Cameraden meines Mannes? Die werden, wenn ich sie bitt’, schon ein Bischen zusammenrücken.“

Damit trat sie rasch an den bezeichneten Wagen und sprach in das offene Fenster:

„Meine Herren, haben Sie nicht noch Raum für zwei schiffbrüchige Damen? Wir wollen uns recht klein machen.“

„Das ist ja unsere Lucca!“ tönte es wie aus einem Munde.

„Ja, ich bin’s, die unglückselige, die man wieder zurücklassen will,“ declamirte sie mit komischem Pathos, denn ihre frohe Laune war bereits zurückgekehrt.

„Wir sind unser zehn in diesem Coupé,“ sagte ein junger Lieutenant, „aber um ihnen, der pflichttreuen Gattin, Platz zu machen, setze ich mich auf den Schoß des Cameraden v. S.“

„Und ich,“ fiel rasch ein Zweiter ein, „nehme den Cameraden v. L. auf die Kniee, damit Ihre Kammerjungfer Raum findet.“

„Dadurch wird die Gesellschaft aufgeräumt,“ setzte ein Dritter lachend hinzu.

Die Thaten waren schnell den Worten gefolgt, wodurch zwei Plätze disponibel wurden. Frau Lucca stieg mit der Kammerjungfer rasch ein, Kiste und Koffer wurden den gutmüthigen Officieren zwischen die Beine geschoben und fort ging es wieder, in munterem Gespräch und durchaus zwangloser Unterhaltung.

Es vergingen Stunden und kaum war in dem heitern Hin- und Wiederreden eine Pause eingetreten. Da fuhr der Zug langsamer.

„Fahren wir noch nicht in Frankfurt ein?“ fragte schon etwas ungeduldig Paulinchen.

„Nein, gnädige Frau, wir sind noch mehrere Meilen von der ci-devant freien Reichsstadt entfernt,“ belehrte sie der Rittmeister.

„Hier sind wohl nur fünf Minuten Aufenthalt, dann geht es sogleich weiter,“ vermuthete v. P.; aber es kam anders. Der Zug hielt an keinem Stationsorte, sondern mitten im Felde, nur ein Wärterhaus befand sich in der Nähe. Der Hauptmann beugte sich zum Waggonfenster hinaus und fragte den Inspector, der geschäftig dahergegangen kam:

„Ist Etwas in Unordnung am Zuge?“

„Nein,“ war die Antwort, „der Bahnbeamte hat das Zeichen zum Halten gegeben und der Herr Oberst fand eine Depesche vor, mit der Weisung, hier zu warten, bis der Sanitätszug von Saarbrücken kommen wird, mit dem ihm neue Befehle zugehen werden.“

„Schöne Aussicht!“ seufzte der Fähndrich und sprang aus dem Wagen, die Cameraden folgten ihm und halfen dann den Damen beim Aussteigen.

„Wie lange kann es dauern, bis der Sanitätszug kommt?“ fragte Frau Lucca.

„Kann’s nicht sagen,“ antwortete der Inspector und schlug sich seitwärts in die Büsche.

Der Fähndrich schrie: „Seit heute Morgen nichts genossen! O! Ein Königreich für’n Pferd – aber es muß rindern und gebraten sein!“

„Meine Herren!“ fuhr hier die Lucca ermunternd dazwischen, „auch ich werde ein Opfer bringen für Deutschlands Größe. Sie sollen in einer halben Stunde etwas Warmes haben.“

Etwas Warmes?“ fragten Alle zugleich.

„Ja,“ replicirte sie lachend, „Kaffee, veritablen Mokka, ich habe zwei Pfund in der Reisetasche. Editha, gehen Sie schnell zum Bahnwärter, leihen Sie ein möglichst großes Kochgefäß, füllen Sie das mit Wasser – dort steht ja ein Brunnen – und tragen Sie mir es auf jenen Rasenplatz. Aber, wie steht’s mit der Feuerung? Für Holz müssen die Herren Officiere sorgen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_287.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)