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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


den Frager mit herausfordernden Blicken messend. „Mein Mann ist bei der Landwehr und steht mit vor Metze; da dächte ich wohl –“

„Platz der Landwehrfrau!“ tönte es von allen Seiten, und sofort bildete sich eine Gasse, damit die Frau mit ihrem Kinde bequem zu der Depesche gelangen könne.

Ein wohlbeleibter Herr mit spärlichem Haupthaar, eine goldene Brille auf der sanft geplatteten Nase, erbat Ruhe, und als diese eingetreten war, las er mit lauter, volltönender Stimme die Depesche vor, die, von Pont à Mousson datirt, die Mittheilung brachte, daß der Feind am sechszehnten einen Ausfall aus Metz gemacht, aber trotz bedeutender Ueberlegenheit nach zwölfstündigem heißem Kampfe in die Festung zurückgeworfen sei. „Verluste aller Waffen auf beiden Seiten sehr bedeutend,“ lautete der Dämpfer auf die frohe Siegesbotschaft.

„Es lebe die Armee! Hoch Prinz Friedrich Karl!“ jubelte die Menge unter fröhlichem Hüteschwenken.

Der Knäuel war eben daran, sich zu entwirren, als eine offene Equipage daher gefahren kam. Die darinsitzende, sehr geschmackvoll gekleidete Dame befahl dem Kutscher, dicht bei der Säule zu halten, und beauftragte danach den schnell vom Bock springenden Jäger, ihr den Inhalt der neuesten Depesche zu berichten.

„Diese Mühe kann Ihr Jäger sparen, gnädige Frau,“ sagte der Vorleser von vorhin, indem er an den Wagenschlag trat und die Dame höflich begrüßte.

„Ah, guten Tag, lieber Doctor!“ rief die Dame sichtlich erfreut; „hab’ Sie lange nicht gesehen. Bitte schnell mir zu sagen, wo wir wieder gesiegt haben!“

Der Angeredete gab lachend zurück: „Daß wir gesiegt haben, davon sind Sie im Voraus überzeugt; es handelt sich bei Ihnen nur um die Frage: wo? Nun denn: eine entscheidende Schlacht ist geschlagen worden in der Nähe von Metz, die Franzosen sind in die Festung zurückgeworfen; aber blutige Köpfe hat es auf beiden Seiten viel gegeben.“

„Maria und Joseph!“ rief die Dame mit einem unverkennbaren Anklang an den österreichischen Dialect; „da steht ja die Armee Seiner Hoheit des Prinzen Friedrich Karl, bei der mein Mann engagirt ist. Jesses, wenn meinem Adolph nur nichts passirt ist! Mir fehlt jede Nachricht von ihm. Sind in der Depesche keine speciellen Namen von Todten und Verwundeten angegeben?“

„General von Döring und von Wedel sind gefallen, von Rauch und von Grüter verwundet,“ berichtete der Doctor.

„Steht nichts vom Lieutenant von Rhaden dabei?“ fragte die Dame mit ängstlichem Tone weiter.

„Ihres Herrn Gemahls ist in der Depesche nicht Erwähnung gethan,“ antwortete der Gefragte lächelnd ob der naiven Frage.

„Da muß ich gleich telegraphisch anfragen. Wollen Sie mir das Telegramm besorgen, Herr Doctor? Mir läßt’s keine Ruh’, bevor ich erfahren hab’, daß mein Mann wohlauf ist. Wir sind ja dicht am Haus’. Bitte, stehen Sie mir in meiner Verlassenheit bei!“

Der also Gebetene sagte bereitwillig zu und folgte dem Wagen, der vor dem Hause Victoriastraße Nr. 30 anhielt.

„Wer war die interessante Dame?“ fragte ein Herr, der sich durch verschiedene Reise-Effecten als Fremder documentirte, den Bezirksvorsteher.

„Sie sind wohl nicht von hier?“ fragte der städtische Beamte zurück.

„Nein, ich bin aus Danzig.“

„Also ein Fremder? Konnt’ ich mir lebhaft denken; sonst müßten Sie ‚unsere Pauline‘ kennen.“ Sprach’s und schritt fürbaß, ohne den Fremden einer weiteren Erklärung zu würdigen.

Verblüfft sah ihm der Danziger nach und wandte sich dann zum Weitergehen. Ein elegant gekleideter Herr, der die Frage des Danzigers gehört hatte, trat jetzt zu ihm mit den Worten: „Die kleine Dame mit dem geistvollen Gesicht und den lebhaften Augen ist die Hofkammersängerin und Primadonna der großen Oper, Frau Pauline Lucca, die Gemahlin des Baron v. Rhaden, der jetzt im Felde steht. Die Sängerin genießt in der Residenz einer großen Popularität und wird von Hoch und Niedrig gewöhnlich nur ‚unsere Pauline‘ genannt.“

Der Fremde dankte in höflichen Worten für diese Erläuterung und setzte dann seinen Weg fort.

Frau Lucca war kaum in’s Haus getreten, als der Portier meldete: „Gnädige Frau, so eben ist diese Depesche für Sie abgegeben.“

Hastig erbrach sie das Couvert und las: „Lieutenant von Rhaden verwundet, jedoch nicht lebensgefährlich.“

„Hab’ ich’s doch geahnt!“ rief die Depeschen-Empfängerin mit schmerzlichem Ausdruck. „Mir hat drei Nächte hintereinander von Schlangen geträumt! Verwundet ist er, nicht lebensgefährlich, steht zwar in der Depesche, aber doch der Pflege bedürftig, und ich bin hundert Meilen von ihm entfernt!“ In großer Erregung fuhr sie fort, wie mit sich selbst redend: „Nein, nein! Ich kenne meine Pflicht und werde sie erfüllen. Johann soll nicht abschirren; ich fahre gleich weiter. Wo ist meine Kammerjungfer? Sie kommen g’rad’ recht, Editha. Machen Sie schnell Alles bereit – wir reisen. In den kleinen Koffer thun Sie nur die nöthige Wäsche, ein Kleiderwechsel ist nicht nöthig; zur Cour werden wir dort nicht geladen; und hier haben Sie Geld, kaufen Sie ein, was mein kranker Mann zur Stärkung braucht: Tauben, junge Hühner in Blechbüchsen verschlossen, Fleischextract, Eingemachtes; wenn es schon Caviar giebt, bringen Sie ein Tönnchen von dem Russen in der Charlottenstraße mit. Vergessen Sie auch nicht feinste Cigarren, und nehmen Sie ein Dutzend Flaschen vom besten Wein aus meinem Keller. Einen Paß muß ich aber auch haben; zunächst also zum Minister des Innern, dem Grafen Eulenburg. Nur schnell, Editha! Lasten Sie Alles in eine Kiste packen und nach der Anhaltischen Eisenbahn befördern. Wenn Sie damit fertig sind, reisen wir!“

„Und wohin,“ fiel jetzt der Docter ein, „wenn ich mir die Frage erlauben darf, wollen die Gnädige reisen?“

„Wohin? In’s feindliche Land. Ich will mir meinen Mann selbst holen, um ihn hier besser pflegen zu können.“

„In der Depesche ist aber nicht angegeben, an welchem Orte Ihr Herr Gemahl sich im Augenblicke befindet, das werden Sie in der großen Verwirrung, die jetzt vor Metz herrschen muß, auch nicht so leicht erfahren.“

„Ich such’ das ganze Elsaß und Lothringen ab, bis ich ihn gefunden.“

„Ihre Kammerjungfer soll Geflügel einkaufen; Fleischspeisen wird der Kranke vorläufig aber nicht genießen dürfen.“

„Er muß doch essen?“

„Allerdings, aber nur die ihm vorgeschriebene Lazarethkost.“

„Was ist das? Spitalsuppen? Laufgrabenbouillon? Daran ist mein Adolph nicht gewöhnt, der muß was Kräftiges haben.“

„Sie machen sich unnütze Mühe und Kosten,“ versicherte der Doctor. „Wenn Sie Etwas mitnehmen wollen, so sei es comprimirtes Gemüse, consistente Milch, Liebig’sches Fleischextract, Kaffee, Thee, Zucker, von solchen Sachen dürfen Kranke genießen. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich die nöthigen Einkäufe besorgen.“

„Himmlischer Doctor, ich möcht’ Sie umarmen!“

„Bitte, sans gêne!“

Nachdem die Krankenverpflegungs-Proviantangelegenheit geordnet war, setzte sich Frau Lucca wieder in ihren Wagen und fuhr zu Minister Eulenburg, den sie in eindringlichen Worten um einen Paß nach dem Kriegsschauplatz für sich und ihre Kammerjungfer bat.

Der Minister war nicht wenig erstaunt über dieses Verlangen und suchte durch die triftigsten Gründe die Sängerin von der Reise zurückzuhalten. Namentlich hob er hervor, daß die Eisenbahnen für Militärzüge fast ganz in Beschlag genommen und auch Privatfuhrwerk fast gar nicht mehr aufzutreiben sei.

„Excellenz,“ erwiderte die Bittstellerin, „ich steh’ vor keinem Wagniß zurück und weiß Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn’s keine Eisenbahnen, keine Wagen und keine Pferd’ für mich giebt, so suche ich eine andere Reisegelegenheit. Fort muß ich und sollt’ ich mir eine Kuh satteln lassen.“[1]

„Wenn Sie mit solcher Energie auf Ihrem Vorsatze bestehen,“ sagte lächelnd der Minister, „dann muß ich Ihnen schon zu Willen sein. Ich werde Ihnen den Paß in deutscher und französischer Sprache ausfertigen lassen, und alle Behörden darin ersuchen, Ihren Wünschen überall möglichst entgegenzukommen.“

„Excellenz, ich dank’ Ihnen in meinem und meines Mannes

  1. Wörtlich.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_286.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)