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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


aufgewacht, und es haftete sonderbarer Weise immer an der Gestalt des Mannes, der damals neben ihr gestanden. Jane dachte nur selten und überhaupt nur mit einem gewissen Widerwillen an jene Begegnung, es lag darin, trotz der Lächerlichkeit des Helden, etwas von jener Romantik, die die verstandesklare Tochter Forest’s so sehr verabscheute, und auch jetzt war sie im Begriff, die zudringliche, immer wiederkehrende Erinnerung in ihre Schranken zurückzuweisen, als ihr dies unmöglich gemacht wurde – ein Tritt ließ sich in unmittelbarer Nähe vernehmen und Professor Fernow selbst bog um die Mauerecke.

Einen Moment lang kam Jane beinahe aus der Fassung über die plötzliche Erscheinung, die so eigenthümlich mit ihren Gedanken zusammenfiel, der Professor aber schien förmlich erschreckt von ihrem unvermutheten Anblick. Er wich zurück und machte eine Wendung zur Umkehr, plötzlich aber schien ihm das Auffallende einer solchen Flucht klar zu werden, nach einem Moment des Zögerns verneigte er sich stumm und schritt nach der andern Seite der Mauer, wo er seinen Standpunkt möglichst entfernt von der jungen Dame, und doch, bei der Enge des Raumes, nicht eben allzu weit einnahm.

Es war das erste Mal, daß die Beiden sich nach jenem Zusammentreffen auf der Landstraße wieder miteinander allein fanden. Die gelegentlichen unvermeidlichen Begegnungen im Hause und Garten waren von Seiten des Professors stets mit einem scheuen Gruße, von Seiten Jane’s mit einer kühlen Erwiderung abgemacht worden, ein längeres Gespräch hatten Beide mit gleicher Consequenz vermieden und es schien, als wollten sie dies auch heute fortsetzen. Der Professor war erschöpft und athemlos angekommen; weder die Erhitzung des stundenlangen Weges, noch die Anstrengung des Steigens, womit er dem Befehle des Arztes zu einer mäßigen Bewegung im Freien so gewissenhaft nachkam, hatten es vermocht, sein Antlitz zu röthen, auf dem noch immer jene fahle Blässe lag, wie am Nachmittage, und dazu die tiefen Linien auf der Stirn des noch jungen Mannes, die dunkeln Ringe um die Augen – das Alles bestätigte nur zu sehr, was Jane oft genug von ihrem Oheim gehört, daß der Professor sich zu Tode arbeite, und seine Tage gezählt seien.

Und dennoch – sie mußte immer wieder an jenen Moment denken, wo er mit ihr vor dem überschwemmten Wege gestanden. Das waren nicht die Arme eines Schwindsüchtigen gewesen, die sie so kraftvoll emporgehoben, so leicht und sicher getragen hatten, und selbst das jähe Aufflammen bei ihrem Zweifel an seiner Kraft hatte nichts Krankhaftes gehabt. Sie vermochte es nicht, den Widerspruch zu enträthseln, der zwischen jenem Augenblick und der gewöhnlichen Erscheinung dieses Mannes lag, und der ihr gerade heute schärfer als je vor Augen trat.

„Ersteigen auch Sie öfter den Ruinenberg, Mr. Fernow?“ begann die junge Dame endlich die Unterhaltung, da ihr das hartnäckige Schweigen des Professors keine andere Wahl ließ, und sie nachgerade genug von dem Sonderlinge gehört hatte, um zu wissen, daß in diesem Schweigen nichts Beleidigendes lag.

Er wandte sich beim Klange ihrer Stimme hastig um, und es schien, als raffte er sich mit Anstrengung zusammen, um ihr gegegenüber seiner sonstigen Träumerei und Zerstreutheit Herr zu bleiben.

„Es ist der schönste Punkt in der Umgebung von B. Ich besuche ihn, so oft meine Zeit es erlaubt.“

„Und das ist wohl selten der Fall?“

„Allerdings, zumal in diesem Sommer, wo ich alle meine Kräfte einer größeren Arbeit widmen muß.“

„Sie schreiben wieder ein gelehrtes Werk?“ fragte Jane mit leisem Spott.

„Ein wissenschaftliches!“ berichtigte der Professor mit einigem Nachdruck, den Spott parirend.

Jane warf höhnisch die Lippen auf.

„Sie finden wohl, Miß Forest, daß dies eine ebenso undankbare als unfruchtbare Mühe ist?“ fragte er mit einiger Bitterkeit.

Sie zuckte die Achseln. „Ich muß bekennen, daß ich keine allzu große Ehrfurcht vor der Bücherweisheit hege und daß ich überhaupt nicht begreife, wie man sein ganzes Leben freiwillig einer Wissenschaft zum Opfer bringen kann, die, wie die Ihrige, Mr. Fernow, nur für die Gelehrten von Interesse ist und der übrigen Menschheit stets ein todter, unfruchtbarer Bücherstaub bleiben wird.“

Das war wieder Jane’s entsetzliche Aufrichtigkeit, die den Oheim so oft schon zur Verzweiflung gebracht, der Professor aber schien weder überrascht noch beleidigt dadurch. Er heftete langsam seine großen schwermüthigen Augen auf das Antlitz der jungen Dame, die es schon halb bereute, die Unterredung begonnen zu haben, denn wenn sie auch jetzt diesen Augen besser Stand hielt als das erste Mal, sie riefen doch sofort jene quälende, beängstigende Empfindung wach, deren sie nicht Herr werden konnte.

„Und wer sagt Ihnen denn, Miß Forest, daß es freiwillig geschah?“ fragte er in einem eigenthümlich gepreßten Tone.

„Nun, erzwingen läßt sich eine solche Richtung doch nicht!“

„Aber gewöhnen! Zumal wenn man, heimath- und elternlos in das Leben hinausgeworfen, in die Hände eines Gelehrten fällt, der nichts kennt und liebt auf der weiten Welt als seine Wissenschaft. – Ich ward schon als Knabe an den Büchertisch gekettet, als Jüngling rastlos immer vorwärts getrieben, meine Fähigkeiten aufs Aeußerste angestrengt, bis endlich das Ziel erreicht war. Was ich an Jugend, an Gesundheit und Poesie besaß, ist freilich darüber zu Grunde gegangen, wem aber der ‚Bücherstaub‘ solche Opfer gekostet, den hält er damit unauflöslich fest für den Rest des Lebens. Mir ist darin jede andere Sehnsucht und jede – Hoffnung untergegangen.“

Es lag eine düstere Resignation in diesem Geständniß, und es war ein seltsam schmerzlicher Blick, der bei den letzten Worten Jane’s Antlitz streifte und eine Art von Zorn gegen ihn und gegen sich selbst in ihr wachrief. Warum konnte sie nicht ruhig bleiben unter diesem Blick? Ueberhaupt, wenn irgend etwas den Professor in ihren Augen herabsetzte, so war es dies Geständniß. Also nicht einmal mit Ueberzeugung und Begeisterung, sondern aus Gewohnheit, aus einfachem Pflichtgefühl arbeitete er sich zu Tode! Ihrer energischen Natur erschien dies passive Ausharren bei dem, wie es schien, halb erzwungenen Berufe unendlich erbärmlich. Freilich, wer nicht Kraft und Muth besaß, den Aufschwung in’s Leben zu wagen, der konnte immerhin im „Bücherstaub“ zu Grunde gehen.

Der Professor hatte sich plötzlich mit einer raschen Bewegung von ihr ab der Aussicht zugewendet, und auch Jane blickte jetzt hinaus in die Landschaft, die soeben aufglühte in den letzten Strahlen der sinkenden Sonne. Die rothe Gluth überstrahlte in flammender Pracht den Abendhimmel, auf dessen purpurnem Grunde sich das blaue Gebirge drüben in klaren, duftigen Linien emporhob, sie umfloß alle die Städte und Dörfer, die am Fuße der Berge hingelagert erschienen, mit leuchtendem Glanz, sie funkelte und blitzte in den grüngoldigen Wogen des Stromes, der ruhig und majestätisch dahinzog, weit hinaus in die schimmernde Ebene, wo am Horizont, fern und undeutlich, wie ein riesiges Nebelbild, der mächtige Dom aufragte, der Stolz und die Krone des alten Rheinstromes.

Und der Wiederschein jener Gluth lag auf dem grauen verwitterten Gestein der alten Burg, auf dem dunkeln Epheu, der sie mit seinen dichten grünen Netzen umspann, während die üppig wirren Ranken, weit über den Abgrund hinaushängend, im Abendwinde auf und nieder flatterten, und auf dem Antlitz der Beiden dort oben.

Jane war einige Minuten lang so versunken in den Anblick dieser wundervollen Beleuchtung, daß sie es gar nicht bemerkte, wie der Professor auf einmal dicht neben ihr stand, und jetzt war sie es, die fast zusammenschreckte bei dem Klange seiner Stimme.

„Kann unser Rhein auch Ihnen einen Moment lang Bewunderung abgewinnen?“ fragte er im Tone eigenthümlicher Genugthuung.

„Mir?“ In Jane tauchte plötzlich der Gedanke auf, er könne etwas von der „Schwäche“ errathen haben, der sie sich schon öfter in dieser Hinsicht schuldig gemacht; zwar behauptete sie stets eine unbedingte Herrschaft über ihre Züge, es konnte eben nur eine Voraussetzung sein, aber selbst diese Voraussetzung ärgerte sie.

„Mir?“ wiederholte sie eiskalt. „Sie mögen theilweise Recht haben, Mr. Fernow, ich finde Einzelnes in dieser Landschaft ganz hübsch, wenn sie mir auch im Ganzen etwas beschränkt und dürftig erscheint.“

„Beschränkt! Dürftig!“ wiederholte der Professor, als habe er nicht recht vernommen, während sein Blick ungläubig und zweifelnd auf ihrem Gesichte ruhte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_264.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)