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Die Base, welche herbeikommend die letzten Reden gehört und das Uebrige errathen hatte, sorgte, daß der Hausirer in’s Haus kam und dort erhielt, was ihm gehörte. Es dauerte lange, bis Stasi nachkam und sich, wie draußen, in der Stube auf die Bank setzte, lautlos und regungslos wie zuvor. Die Hälfte des Jahres war bereits längst überschritten. Längst hatten die Sonnwendfeuer von den Bergen geleuchtet; in der Ebene ging der Wind bereits über die Stoppeln der Kornfelder, der ermüdete Sommer eilte jeden Tag früher zur Ruhe. Eine der höchsten Bergkuppen, die am Abend noch im grauen Felsenrocke geprangt, hatte über Nacht einen Schneemantel umgeschlagen; im Thale begannen die Blätter der Kirschbäume zu vergilben, während an den Berghängen sich das nachdunkelnde Schwarz der Tannen mit dem Roth der Buchen- und Ahornkronen mischte. Der Herbst war gekommen. Es war beinahe völlig finster, als Stasi in die Stube trat; sie zündete aber die Lampe mit dem matten Oeldocht nicht an, sondern schaute durch das Fenster in die Nacht hinaus, das, noch geöffnet, mit der Nachtkühle die verhallenden Klänge des Abendläutens hereindringen ließ.

Der heimkehrende Vater fand sie so. Er staunte nicht weniger darüber, wie er sie fand, als, mit welch sonderbarem Verlangen sie ihn empfing.

„Ich hab’ mit dem Vater was zu red’n,“ sagte sie, indem sie nun die Lampe anzündete und sich anschickte, in ihre Schlafkammer zu gehen. „Ich hab’ eine Bitt’ an den Vater.“

Dem Alten wurde das Herz weich von dem bloßen Tone, in dem sie das sprach, er gewährte die Bitte, noch ehe sie ausgesprochen war. „Was willst denn, Dirndl?“ rief er. „So red’! Ist’s etwas, was Dich wieder gesund machen kann?“

„Ja,“, sagte Stasi mit Nachdruck, „das Einzige, was mich wieder machen kann wie eh’vor.“

„No, das wär’ just nit g’rad’ nöthig,“ erwiderte der Vater kopfschüttelnd. „Aber meinetweg’n, wenn’s nit anders sein kann, ’raus mit der Farb’!“

„Der Vater weiß, was mir g’scheh’n ist,“ sagte sie und hielt die Hand an den Docht, als wenn sie ihn aufstören wollte, so daß ihr Gesicht vollständig im Schatten war, „selbige Mal am Ostertag, was mir für eine Schand’ angethan worden ist mit dem Spitznam’.“

„Freilich weiß ich’s,“ sagte der Bauer wild. „Ich weiß auch, wer’s gewesen ist, und hab’ mich schon oft abgestudirt d’rüber, was ich ihm anthun soll – der Nam’ g’hört Dir auch gar nimmer; es sagen’s alle Leut’ im Haus, und die Nachbarn auch; Du bist gar nimmer die –“

„Nix soll ihm der Vater anthun!“ unterbrach ihn Stasi rasch, um das verhaßte Wort nicht aussprechen zu hören, das er auf der Zunge hatte. „Derselbige – der Vater weiß schon, wen ich mein’ – hat den Sechser, den ich ihm damals ’geben hab’, an ein Bandl gefaßt, und jetzt hat er sich gar ein goldnes Gehäus dazu gekauft, und wenn’s auch so wär’ wie der Vater meint, wenn ich den Namen nimmer verdien’, so kann ich ihn doch nit los werden, so lang’ der Bursch den Sechser umhängen hat und damit herumgeht vor aller Welt.“

„No, jetzt weißt,“ entgegnete der Vater, „dasselbige begreif’ ich justament nit! Was geht Dich und mich ein solcher Nothnickel, ein armseliger Holzknecht an? Wenn nur wir wissen, wie die Sach’ ist, und die andern Leut’ in der Jachenau.“

„Na, Vater, das ist nit so,“ rief Stasi eifrig. „Da versteht der Vater nit, und kurz und gut – wenn der Vater haben will, daß’s wieder werden soll wie früher, und wenn ich nit d’rüber zu Grund’ geh’n soll, so geh’ der Vater und schau’, daß ich den Sechser wieder krieg’ – eher hab’ ich keine ruhige Stund’ mehr und kein’ gesunden Augenblick.“

Unter mühsam verhaltenem Schluchzen verschwand sie in der Kammer. Der Bauer sah ihr bedächtig nach; dann nahm er der Schwester, die eben durch die Stube ging, das Licht ab und sagte: „Sag’ dem Knecht, er soll das Wagel schmier’n und den Rappen in aller Früh füttern; ich will morgen nach Lenggries hineinfahren. – Da ist ein Schießen – hab’ heut’ so viel davon erzählen hören, will mir auch einmal einen guten Tag aufthun.“

Es dämmerte kaum, als es am andern Tage vor dem Kurzenhofe schon laut wurde. Stasi, die die Nacht über wenig geschlafen, hörte durch den leichten Morgenschlummer, der sie endlich in die Arme genommen, wie der Knecht das Scheunenthor öffnete, das Wägelchen herausschob, und wie bald darauf das leichte Gespann gegen den Abhang dahinrollte. Es stieg ihr heiß in die Wangen, wenn ihr einfiel, wohin das Fuhrwerk seinen Weg nahm, und es überfröstelte sie wieder, wenn sie bedachte, mit welchem Bescheid es vielleicht zurückkommen würde – diese Gedanken streiften wie böse Kobolde das letzte Mohnkörnlein aus ihren Augen, daß sie so klar wurden, als wären sie, um mit dem Volke zu reden, mit dem Besen ausgekehrt. Statt des Schlummers stellten sich aber bald andere Gäste in ihren Augen ein, Gäste, die in letzterer Zeit so häufig dort eingekehrt waren, daß sie beinahe anfingen, dort heimisch zu sein: es waren Thränen, deren sie sich nicht zu erwehren vermochte, und die sie mit dem Gesichte tief in das Kissen vergrub. Die Base lag ja in der Stube nebenan; sie durfte um Alles in der Welt nichts hören, wenn etwa wider Willen ein Seufzer zum Verräther ihrer geheimen Gedanken oder Gefühle geworden wäre. Die Base hörte aber doch, was vorging, und ihr gutes Herz ließ sie nicht ruhig zuhören; leise huschte sie vom Lager, schlüpfte in’s Gewand und setzte sich geräuschlos an Stasi’s Bett, daß das Mädchen erschrocken auffuhr, als die Base ihre auf der Decke ruhende Hand ergriff. „Nun, erschrick nur nit!“ sagte sie halblaut. „Bleib’ ruhig liegen, aber red’! Schau, jetzt sind wir Zwei allein; kein Mensch hört uns. – Jetzt sag’, was es denn mit Dir ist! Meinst, ich hab’s nit g’hört, wie Du Dich die ganze Nacht herumgeworfen hast? Es schlafen nit alle Leut’, die die Augen zuhaben. Meinst, ich hab’s nit gehört, wie Du in Dein’ Polster hineinflennst? Geh’, Stasi,“ fuhr sie noch herzlicher fort, als diese noch immer schwieg, aber ihr schmerzliches Schluchzen nicht mehr zu unterdrücken suchte, „Du weißt, wie gut ich’s mit[WS 1] Dir mein’ – Du bist jetzt doch schon einmal im Anderswerden drinn’, bist nimmer so schief’rig und so z’wider wie sonst; warum willst gerad’ in der Sach’ so versteint und verbeint sein? Du hast was auf’m Herzen, ich lass’ mir’s nit nehmen – also sag’ mir’s! Ich versteh’ mich d’rauf und kann Dir vielleicht ein’ guten Rath geben! Sag’, ist Dir was gescheh’n? Wann und wo und wer hat Dir was gethan?“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Verdrängter.
Von Brehm.

In der sogenannten guten alten Zeit, welche außer Pfaffen und Rückschrittlern andrer Art nur Jäger und Naturforscher zu loben ein Recht haben, führte ein niedliches Raubthier in unserer norddeutschen Ebene möglichst versteckt und verborgen ein gemüthliches Stillleben. Noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts gab es hier in diesem Theile unseres Vaterlandes überall ausgedehnte und unzugängliche Brüche und Sümpfe, insbesondere in der Nähe der Flüsse, oder als Fortsetzung der heut zu Tage sehr beschränkten, auf ihren tiefsten Stand gebrachten Seen. Wo aber innerhalb des gemäßigten Gürtels derartige reich bewachsene Wasserflächen vorkommen, entfaltet sich stets ein reiches Thierleben; denn „die erstgeborenen Brüder des Menschen“ fühlen sich unbedingt da am glücklichsten, wo der Gebieter der Erde „nicht hinkommt mit seiner Qual“. Wenn wir alte Jagdbücher und Jagdregister durchblättern oder den ersten Vogelkundigen Deutschlands, des berühmten Naumann’s scharf beobachtenden Vater, in den ungeheuren Sumpf begleiten, welcher sich in Folge der drei Mißjahre 1770 bis 1772 im Anhaltischen gebildet hatte und in welchem der eifrige Beobachter ausharrte, bis ihm die Wasserstiefeln von den Füßen faulten, und das durch Sumpfkräuter von ihm selbst lange bekämpfte Fieber endlich übermächtig wurde, beschleicht uns, die wir der Göttin Diana huldigen oder uns mit Naturbeobachtungen befassen, ein wehmüthiges Gefühl ob unserer jetzigen Armuth. Wo sind sie hingezogen, alle die geflügelten Schaaren, welche damals

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: mir
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_212.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)