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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


er in seine Schlafstube humpelte, „das Madl’ ist mir ausgewechselt worden, oder es redet schon der Tod aus ihr.“

Stasi’s Gemüthsart war zu lebhaft und ihr Uebel zu unbedeutend, als daß sie sich an’s Bett hätte fesseln lassen. Als der Bauer am andern Tage zur gewöhnlichen Zeit in die Wohnstube trat, traf er sie schon vollständig angekleidet am Tische sitzen, dem Fenster gegenüber, das die Aussicht nach dem Thale bot, den kranken Fuß durch einen Schemel unterstützt. Sie sah gesund aus und frisch, und doch wollte es den Vater bedünken, als wäre das Roth ihrer Wangen um einen Hauch blässer geworden. Sie schaute in die Morgenlandschaft hinaus, deren Vordergrund durch das am Bergabhang liegende Krämerhaus mit dem Gebüsch und Hohlweg gebildet wurde, in welchem am Ostertage die verhängnißvolle Begegnung stattgefunden, und die Erinnerung daran oder die durch Unthätigkeit veranlaßte Langeweile stand auf dem hübschen Gesichte als eine Wolke des Unmuths, der auch aus dem Morgengruße grollte, den sie dem Vater entgegenrief: der Vater solle nur gleich zum Tischler in’s Dorf hinunterschicken, sagte sie, und solle das Maß zu ihrer Truhe hinuntergeben, denn die Weillang bringe sie um.

„Da laßt sich helfen,“ sagte die Base, die inzwischen eingetreten war und das Frühstück auf den Tisch stellte, eine mächtige Schüssel dampfender Milchsuppe sammt einem nicht minder ansehnlichen Laib schwarzen Brodes, der sich von dem blanken Holzteller recht einladend abhob. „Mußt sie halt doppelt nehmen, wenn Dir die Zeit zu lang wird – oder arbeit’ was – es giebt genug zu thun; wenn Du Dich um die Nähterei annehmen willst, hast Du drei Wochen vollauf zu schaffen …“

„Das ging’ mir gerad’ ab!“ entgegnete Stasi und warf die Lippen auf. „Ich soll wohl die Hausnähterin ersparen helfen? Soll Dir den Pudel machen und die Arbeit thun, die Dir zu schlecht ist?“

„Na, na,“ fiel der Bauer ein, um dem Zanke vorzubeugen, den er schon auflodern sah. „Weiß auch nit, was Dir einfallt, Schwester, daß das Madl hersitzen und nähen soll wie eine Nähterin, die auf der Stöhr ist! Thu’ was Du magst, Madl, und wenn Du Weillang hast, nachher schicken wir in’s Dorf und lassen die Nachbarn in’n Heimgarten kommen.“

„Damit sie mich wieder ausrichten,“ rief Stasi zornig, „und mich in den Mäulern herumtragen? Das wär’ mir schon zu dumm, Vater … ich müßt’ ihnen in die Augen fahren, Einem nach dem Andern!“

„Nachher kannst was lesen,“ sagte der Vater begütigend. „Giebt ja allerhand schöne Bücher; da ist ‚die große biblische Geschicht’‘, oder ‚die sieben schlafenden Jungfrau’n‘, oder ‚der Schatz in der unsichtbar’n Höhl’n Xaxa‘, und wenn Du ein ander’s lesen willst, kannst es beim Schullehrer haben oder beim Herrn Pfarrer. Dabei kannst mir auch einen Gefallen thun, weil ich doch wegen dem dummen Reißen im Fuß stillsitzen und Dir Gesellschaft leisten muß. Du lies’st vor und ich hör’ zu, dann haben wir alle Zwei ’was davon!“

Stasi schlug ein spöttisches, unwilliges Gelächter auf, brach aber mitten drinnen ab und griff nach ihrem kranken Fuß, als hätte sie dort plötzlich wieder Schmerz empfunden. Schweigend nahm sie einige Löffel Suppe, stützte dann die Ellenbogen auf den Tisch und verbarg das Gesicht in den Händen. In dieser Stellung verblieb sie, bis die Ehehalten, die zum Frühstück in die Stube kamen, dieselbe wieder verlassen hatten. Wohl riefen und nickten sie der Tochter des Hauses ihr „Grüßgott“ zu; aber sie wunderten sich nicht, daß sie keine Erwiderung fanden, sie waren es nicht anders gewöhnt. Als das Gebet gesprochen und die Stube wieder leer war, erhob sich Stasi und langte, sich mühsam vorbeugend, nach dem Fenstersims, wo die große Hausbibel lag.

„Was willst denn?“ fragte der Vater, der sich eilfertig erhob. „Bleib’ doch lieber sitzen und sag’s, wenn Du was willst! Ich helf’ Dir ja gern und trag’ Dir’s herbei!“

„Du willst mir helfen?“ lachte Stasi, aber diesmal klang ihr Lachen fröhlich und frei. „Du brauchst ja selber einen Helfer! O mein Vater, wir sind ein schön’s Paar Leut’! Ich hab’ aber schon, was ich gewollt hab’ – das Buch hab’ ich mir geholt und will Dir was vorlesen d’raus.“

„Vor –?“ sagte der Bauer, der nicht mehr herausbrachte vor Verwunderung und Betrübniß; denn mit jedem Zeichen geänderten Sinnes stieg auch seine Besorgniß wegen ihrer Gesundheit wieder in ihm auf. Sie hatte das Buch bereits ergriffen und darin zu blättern begonnen.

„Was soll ich denn lesen?“ sagte sie. „Aha! Da liegt die Nasenbrill’n; das wird wohl ein Merksel sein, wo der Vater zuletzt stehn geblieb’n ist.“ Ohne weiter nachzusehen, begann sie zu lesen; es war die Geschichte von Vasthi, der stolzen Königin, und von ihrer Verstoßung durch König Ahasver. Stasi las die ersten Sätze mit wohlklingender Stimme, doch in dem geschraubten singenden Tone, den man in den Landschulen häufig als unerläßliche Beigabe eines schönen Vortrags findet; aber bald schien ihr das Lesen nicht mehr zu behagen, und als es dazu kam, daß die stolze Vasthi wirklich verstoßen werden sollte, brach sie plötzlich ab, klappte das Buch zu und rief: „Es geht nit, Vater – es greift mir die Augen an. Ich mag auch die alten G’schichten nit lesen, die ich schon hundertmal in der Schul’ gehört hab’.“

„So laß Dir ein ander’s Lesen kommen!“ sagte eifrig der Bauer. „Schick’ zum Schullehrer hinüber, der hat allerhand Bücher! Schick’ um den boarischen Hiesel! Weißt, das ist ein Wildschütz’ gewesen, der die Kugeln in seinem Hut aufg’fangen hat, der niemals einen Punkten g’fehlt und die Cithern so gut g’schlag’n hat wie gar kein Anderer.“

In Stasi’s Gedanken mochte eine naheliegende Aehnlichkeit auftauchen; denn sie unterbrach den Vater abwehrend und rief: „Von einem solchen G’sellen will ich auch nix wissen – ich werd’ schon sehn, daß mir der Herr Pfarrer was zum Lesen giebt, wenn ich was will – derweil aber will ich mir der Mahm ihre Nähterei hersuchen.“

„Kreuzbirnbaum und Hollerstaud’n!“ sagte der Bauer, in welchem augenblicklich die Besorgniß vom Vergnügen überwältigt wurde. „Deandl, wie red’st Du daher? Du bist ja auf einmal völlig ein andres Leut’ worden … was ist mit Dir auf der Alm passirt? Ich hab’s schon oft gehört, es giebt allerhand Zauberei und Hexerei droben – hat Dir wer was angethan? Bist vielleicht auf eine Irrwurz’n treten?“

So freundlich Stasi’s Angesicht eben dem Alten zugelächelt, ebenso grimmig funkelte es ihm plötzlich aus ihren Augen entgegen; sie warf die Näharbeit, die sie an sich gezogen hatte, mitten in die Stube, daß die Knäuel herumflogen und die Scheere im Fußboden stecken blieb, und eilte dann, so gut es mit ihrem beschädigten Fuße anging, in die Kammer. Der Vater wollte ihr nach; aber er holte sie erst ein, als sie schon hinter sich die Thür zuschlug und klirrend den Riegel vorschob; und so oft er auch an der Thür pochte, so freundlich er auch bat, doch wieder herauszukommen, es erfolgte keine Antwort; das bloße Wort „Irrwurz’n“ hatte an ein verwandtes Wort erinnert und den alten Sturm im Gemüthe des Mädchens in alter Heftigkeit aufgewühlt. Sich bedenklich hinter den Ohren krauend, hinkte der Alte zurück und brummte: „Da kennt sich bald Niemand mehr aus – jetzt möcht’ ich schon bald glauben, das Madel ist nit krank, sondern hat den bösen Feind in sich.“

Tage vergingen so und reihten sich unter ähnlichen Auftritten zu Wochen. Sie glichen einander, helles Wetter wechselte mit Stürmen, nur mit dem Unterschiede, daß letztere immer mehr an Heftigkeit abnahmen. Die Heilung des verrenkten Fußes schritt dabei langsam, aber sicher fort, und nach nicht sehr langer Zeit wanderte Stasi wieder im Hause und vor demselben hin und her, als ob nichts vorgefallen wäre. Wer sie sah, bemerkte kaum eine Veränderung an ihr; nur die Hausgenossen steckten die Köpfe zusammen und wunderten sich, daß sie, während sie sonst so rasch gegangen, als ob ihr der Boden unter den Füßen brennte, nun so bedächtig und wie nachdenklich einhergehe, und daß sie, die oft den ganzen Tag ihre Stimme hatte erschallen lassen, jetzt oft stundenlang den Mund nicht aufthat zu einem armseligen Wörtchen, daß sie immerwährend „um’s Kennen“ an der Frische ihrer Farbe verlor. Dabei war sie förmlich leutscheu geworden; wenn es nicht ganz und gar unvermeidlich war, bekam Niemand von den Nachbarn oder Vorübergehenden sie zu Gesicht, und galt es, Sonntags zur Kirche zu gehen, so hatte sie immer eine oder die andere Ausflucht, um sich davon loszumachen; sie vermochte noch nicht, den Leuten zu begegnen; sie wollte die Orte nicht sehen, die sie an die Stunden erinnerten, die für ihr ganzes Leben von so ernsten Folgen geworden. Am liebsten saß sie an der Langseite des Hauses, der Brettenwand gegenüber, an deren jenseitigem Abhange die Brettenalm lag; wenn das Gestein in der Abendsonne erglänzte, konnte sie stundenlang auf der Bank sitzen und starrte regungslos in das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_210.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)