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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

weiten ihre Kreise bis zum Durchmesser von einer Viertelmeile und darüber, ziehen sich wiederum enger und enger zusammen und treiben es, wie vorher. Endlich siegt die wenigstens scheinbare Nothwendigkeit über alle Bedenken. Der kreisende Schwarm schichtet sich dicht zusammen; aus seiner Mitte heraus senkt sich, unter Voranflug des ältesten Taubers, ein langgezogener Kegel in die Tiefe, vergleichbar einer Sand- oder Wasserhose, da ja auch wie hier Alles durch einander wirbelt. Tiefer und tiefer und in immer engeren Kreisen sich drehend, fällt der Zugführer und mit ihm der ganze Schwarm. Da mit einem Male legt er die Flügel glatt an den Leib, und wie ein fallender Stein stürzt er und ihm nach sein Gefolge in die Tiefe hinab, so schnell an den Jägern vorüber, daß diese nichts weiter gewahren, als schattenartige, scheinbar lang ausgedehnte Körper. Alle Gewehre werden entladen; aus der dunkeln Tiefe herauf aber klingt es wie jauchzend: „Kuru, ku, ku, ku.“




Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)
29. Trennung.

„Du treuer, muthiger Alfred!“ hatte Anna zu dem Schwächling gesagt, den sie oft wegen seiner Feigheit verspottet. Und in welchem Tone hatte sie es gesagt! Es war Alfred, als müsse ihm das Herz zerspringen bei diesem Tone. Aber er vergaß dennoch nicht, daß sie die Braut eines Andern war.

„Ich werde thun, was ich kann,“ sagte er. „Die Aerzte haben ihn vor einer Stunde für verloren erklärt. Ich versuche jetzt noch eine Behandlungsart, die ich mir in diesen schweren Stunden ersonnen – vielleicht – vielleicht – !“ Er konnte vor innerer Bewegung nicht weiter reden.

Anna ergriff mit Ungestüm seine Hand. „O Fredy, was soll ich Dir sagen, wie Dir danken? Was Du an Frank thust, das thust Du ja an mir!“

„Ich erfülle nur meine Pflicht als Arzt,“ sagte er sanft ablehnend. „Und ich habe sie nie freudiger gethan als hier. Sie aber, Anna, Sie thun mehr als Ihre Pflicht. Sie opfern sich auf, ohne etwas nützen zu können.“

„Fredy,“ rief Anna erschrocken, „warum nennst Du mich auf einmal Sie?“

„Weil ich weiß, daß es Jemandem, der ein Recht auf Sie hat, unangenehm wäre, wenn ich die alte Vertraulichkeit beibehielte,“ erwiderte Alfred, kurz abwehrend. „Gehen Sie, liebe Anna, gehen Sie nach Hause. Ich weiß es, daß Ihr Herz Sie treibt, und weiß, was es Sie kostet, Frank zu verlassen; aber dennoch beschwöre ich Sie im Namen Aller, die Sie lieben – erhalten Sie sich den Ihrigen!“

„Liebes Fräulein,“ sagte Frau Ida, die sich indessen aus ihrer verzweiflungsvollen Versunkenheit aufgerafft hatte, „folgen Sie Herrn von Salten, er meint es ja mit uns Allen am besten!“

„Das weiß ich, Ida,“ rief Anna und warf sich, in Thränen ausbrechend, an den Hals der Freundin. Es war ein seltsames Weinen, halb um Frank, halb um etwas Anderes; sie konnte sich selbst nicht erklären, um was. Sie hatte in ihrem ganzen Leben nicht so aus tiefster Seele geweint wie jetzt.

„Frank,“ sagte Alfred, „Fräulein Anna will hier bleiben, um Sie zu pflegen; wenn sie es aber thut, kann sie Ihre Krankheit erben – wollen Sie das?“

„Nein, o nein,“ rief Frank, „unser Kind soll nicht auch krank werden, sie soll gehen – oder ich trage sie selbst hinaus.“ Und er erhob sich im Bette, als wolle er Miene machen, das Gesagte auszuführen.

„Sie sehen, nun muß es sein!“ sagte Alfred mit ruhiger Entschiedenheit, „sonst regt sich Frank so auf, daß er nicht genesen kann!“

Anna heftete einen langen traurigen Blick auf ihn. „O Fredy, daß Du mir das gethan!“ Dann trat sie noch einmal zu Frank. „Ich gehe, Frank, aber nicht weiter als bis vor die Thür; dort werde ich wachen die ganze Nacht, damit ich immer weiß, wie es um Dich steht, und gleich da bin, wenn Du mich haben willst. Das kann mir Niemand wehren.“ Sie nahm Ida bei der Hand. „Kommen Sie mit mir und schöpfen Sie einen Augenblick frische Luft!“ Dann sich im Hinausgehen zu Alfred wendend, fragte sie: „Wie lange bleibst Du – bleiben Sie noch hier?“

„Die ganze Nacht,“ sagte er, „denn diese Nacht entscheidet über Leben und Tod. Wenn Sie wirklich im Hause bleiben wollen, so werde ich Ihnen von Zeit zu Zeit Nachricht geben lassen.“

„Wenn Sie das thun wollten!“ sagte Anna fast schüchtern. Plötzlich stürzten ihr von Neuem die Thränen aus den Augen.

„Ach, Alfred, kann es nie mehr zwischen uns werden, wie es war?“

Nie mehr!“ sagte Alfred milde, aber bestimmt. Und als die beiden Frauen das Zimmer verlassen hatten, preßte er die weißen zarten Hände vor die Brust: „Ich muß fort – sobald wie möglich.“

Anna war weder durch Güte noch Gewalt aus Frank’s Hause wegzubringen. Die Boten ihrer Mutter wurden von ihr mit dem Bescheide zurückgewiesen, sie thue ihre Schuldigkeit, wie sie dieselbe einst gegen Vater und Mutter thun werde. Und als endlich Herr Hösli selbst kam, wußte sie auch ihn durch ihre eigene Zuversicht zu beruhigen und ihm die Erlaubniß abzuschmeicheln, in der luftigen Hausflur zu bleiben.

„Wir sind Frank jedes Opfer schuldig,“ sagte Herr Hösli und ging, obgleich ihn der Widerwille schüttelte, zu Frank hinein. Er war lange bei ihm. Im Zurückkommen sah er seine Tochter mit einem eigenthümlichen Blicke an. „Der Salten ist ein merkwürdiger Mensch. Wenn ich einmal krank werde, will ich keinen andern Arzt als ihn.“

Anna saß in einem Lehnstuhl, den ihr Frau Ida herausgestellt hatte, und ihr Köpfchen war in trübem Sinnen auf die Brust gesunken. Herr Hösli richtete es am Kinn in die Höhe und sah ihr forschend in die Augen. „Wenn Dich’s nur nicht reut, ein solches Herz von Dir gestoßen zu haben!“ Er küßte Anna auf die Stirn und ging. – – –

„Frank ist gerettet!“ jubelte Frau Ida nach einer langen fürchterlichen Nacht Anna entgegen.

„Frank ist gerettet!“ wiederholte einige Stunden später ganz Zürich.

„Wer hat ihn gerettet?“

„Salten, der Doctor von Salten, der schon so viele merkwürdige Curen gemacht!“

So ging es von Mund zu Mund, und als der blasse müde Mann nach der schweren Arbeit der Nacht die gewohnten Gänge zu seinen Kranken machte, da liefen ihm Bekannte und Unbekannte nach, schüttelten ihm die Hände und beglückwünschten ihn zu einer Cur, die ihn mit Einem Schlage zu einem berühmten Arzt machte. –

Der Zudrang, der von diesem Tage an in Alfred’s Sprechzimmer stattfand, war unerhört. Niemand wollte einen andern Arzt als Alfred. Er eilte von einem Schreckenshause in das andere, und sein Name war der Talisman, der Sterbenden noch Hoffnung einflößte. Man fürchtete, die Seuche werde so rasch um sich greifen wie an anderen Orten. Da brachte Alfred ein Präservativverfahren in Vorschlag, welches von den medicinischen Behörden fast einstimmig gutgeheißen und angenommen wurde. Und so über alle Erwartungen bewährten sich Alfred’s Vorschläge, daß das Uebel im Keime erstickt wurde, um erst ein paar Jahre später mit erneuter Gewalt auszubrechen. In dieser Zeit aufopferndster Thätigkeit hatte Alfred doch noch Muße gefunden, sein volkswirthschaftliches Examen zu machen und den Plan einer Leinenfabrik mit Herrn Hösli auszuarbeiten. Nur in der Familie Hösli ließ er sich wegen „Mangels an Zeit“ wenig mehr sehen.

Victor war kurz nach Frank’s Erkrankung nach Hause berufen worden. Niemand wußte, wie Anna mit ihm stand; sie erwähnte seiner nicht und schwieg beharrlich auf alle Fragen, selbst ihrer Mutter. Frau Hösli ahnte, daß die jungen Leute nicht eben gut miteinander waren und daß Anna sich schämte, es zu gestehen, weil es ihr die Mutter vorausgesagt. Auch der Briefwechsel zwischen Beiden schien

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 754. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_754.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)