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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Es war um Mitternacht, als wir den Schloßhof betraten. Niemals in meinem Leben werde ich das Schauspiel vergessen, das unser hier wartete. Das ganze Schloß mit seinen weiten Räumen und hallenden Corridoren war überfüllt mit Verwundeten. In den Zimmern, auf den Gängen und Treppen, in den Scheunen und Ställen, überall schwer Verwundete, überall Stöhnen und Schmerzensschreie.

In der Küche an dem prasselnden Feuer des Kamins saß in einem großen Lehnstuhle der greise Schloßherr von Aubigny. Er allein hatte ausgehalten in der allgemeinen wilden Flucht an dem Orte des Schreckens. Stumm saß der ehrwürdige Greis und starrte in die knisternden Flammen, und Thräne auf Thräne rollte über seine bleichen Wangen. – Wir hatten alle Hände voll zu thun, den Verwundeten die erste Hülfe zu bringen; denn es fehlte hier am Allernothwendigsten.

Bei dem schwachen Scheine unserer Laternen gingen wir in die Scheune, wo die Verwundeten auf den noch ungedroschenen Garben gebettet waren. Da lag ein armer Kerl vom dreiundvierzigsten Regimente; er hatte einen Schuß im Kopfe, und das dunkle Blut quoll über seine Schläfe. Seine Hände griffen convulsivisch in der Luft umher, er war bewußtlos. Wir wollten seine Wunde kühlen, da streckte er sich, ein krampfhaftes Stöhnen, und er war unter unseren Händen verendet. Nebenan lag halb aufgerichtet ein Franzose. Ein Granatsplitter hatte ihm den Leib aufgerissen. Er litt entsetzlich, doch war er völlig bei Sinnen. „De l’eau,“ ächzte er, die Hand nach uns ausstreckend. Als er getrunken und wir ihn verbinden wollten, sagte er beim Anblick seiner gräßlichen Wunde: „Ne vaut plus la peine, Messieurs,“ dann ließ er den Kopf auf die Brust sinken und murmelte: „oh, ma pauvre mère!“ – Weiter oben lag ein preußischer Soldat mit einem Schusse durch die Brust. Derselbe war durch den Magen eingedrungen und hatte das Rückgrat verletzt; er lag im Todeskampfe. Dicht neben diesem lag, laut jammernd, ein blutjunger Einjähriger, eine Granate hatte ihm beide Beine weggerissen. „Wird denn diese entsetzliche Nacht nimmer enden?“ stöhnte er. Er wird die Sonne nicht mehr sehen, – armer, junger Mensch!

Wahrlich, Ihr zu Hause, die Ihr aufjubelt, wenn der elektrische Funke Euch die Siegesbotschaft bringt, die Ihr aufjauchzt, wenn die Kanonen ihr Victoria donnern, und tausend bunte Flaggen wehen, Ihr ahnt nicht, um welchen Preis der Sieg erkauft wurde; Ihr ahnt nicht, welche Qualen, welche Martern, welche Schmerzen und Foltern, unbeschreiblich und unsagbar, der Lohn derjenigen sind, welche Euch diese Siege bereiteten. Aber für uns, die wir diese Wunden bluten und diese Augen brechen sahen, die wir das Geächze, das letzte Stöhnen der Sterbenden vernahmen, und die wir vor den letzten Zuckungen dieser schmerzgekrümmten Leiber entsetzt zurückbebten, für uns ist es Pflicht, alle diese Schauder Euch zu erzählen, wieder und wieder davon zu reden, damit Ihr mitten in Eurem gerechten Siegesjubel ihrer eingedenk seid und bleibet. Schmach, Deutschland, Dir und tausendfache Schmach, wenn Du je vergißt, wie Deine Kinder für Dich und Deine Ehre gestritten und wie sie für Dich gelitten haben!

Unsere Laternen waren erloschen, wir waren ohne Licht und mußten es daher aufgeben, in der Nacht noch zu verbinden. Auch die Müdigkeit fing an, Herr über uns zu werden, und Jeder suchte, so gut es eben gehen wollte, ein Plätzchen zur Ruhe. – In dem vorderen großen Hofe sah ich eine frische Strohschicht; froh des Fundes, warf ich mich darauf, aber nur, um mich sofort davon zu überzeugen, daß sie um vieles dünner sei, als ich geglaubt hatte, daß sie irgend etwas Ungehöriges bedecke und daß die Bequemlichkeit, die sie biete, ihrem viel verheißenden Aussehen nicht entspreche. Verdrossen wandte ich mich, in das Stroh zu greifen nach der mir so sehr unwillkommenen Unterlage. Ich faßte einen seltsam kalten Gegenstand; entsetzt sprang ich in die Höhe, ein Schauder ergriff mich – kein Zweifel: es war die starre Hand eines Todten, die ich gedrückt hatte, und acht Leichen ruhten unter dem Stroh, das von mir zur Lagerstätte ausersehen worden war. Sie waren im Laufe des Abends im Lazareth verschieden und man hatte sie bis zu ihrer morgigen Beerdigung einstweilen hier untergebracht. Ein kalter Schauer schüttelte mich und ich floh aus dieser unheimlichen Nachbarschaft. In einem der Nachbarhöfe hatten verschiedene Herren sich unter freiem Himmel eine dünne Strohdecke bereitet. Ein katholischer Geistlicher aus Bonn, ein ganz vortrefflicher Mann, der unterwegs schon tüchtig an den Bahren mitgeschleppt und unermüdlich den Verwundeten durch Wort und That Trost gespendet hatte, war so freundlich, mir ein Plätzchen an seiner Seite einzuräumen.

Unsere Ruhe sollte nicht lange währen, denn die Nacht war bitter kalt und der Frost trieb uns auf. Gegen vier Uhr früh setzten wir unsern Weitermarsch fort, nachdem wir einen Theil unserer Vorräthe auf dem Schlosse zurückgelassen hatten.

Wir passirten ein kleines Wäldchen, dann einen Bach, und hier fanden wir schon die ersten Spuren des Kampfes. Patronenhülsen, Gewehre, Kleidungsstücke lagen zerstreut umher; unter einer Baumgruppe lag ein todter Soldat des dreiundvierzigsten Regiments. Der Hohlweg, welchen wir zu passiren hatten, war von Granaten gehörig bearbeitet worden, die Bäume waren wie abrasirt und der Hohlweg durch Aeste gesperrt. In der nun folgenden Allee bot sich uns ein Anblick, so großartig grauenhaft, daß wir Alle einen Augenblick, wie an den Boden gefesselt, das gräßliche Bild anstarrten. In dem von schweren Fichtenbäumen gebildeten düsteren Laubgange, in welchen die eben aufgehende Sonne grelle Streiflichter warf, hatten die preußischen Jäger eine blutige Ernte gehalten. Hier lag Franzose an Franzose (es mochten wohl dreihundert sein), größtenteils in den Kopf geschossen, zum Theil in der seltsamsten Stellung. Gleich vornan kniete ein Franzose aufrecht, das Gewehr im Anschlag auf den Erdwall aufgelegt; der Kopf war auf das Gewehr gesunken – er hatte den Tod nicht gefühlt. Dicht hinter ihm lag ein anderer Franzose mit schmerzverzerrtem Antlitz, die linke Hand fest auf seine Wunde gepreßt, während die rechte ein deutsches Gebetbuch hielt – er hatte noch Zeit gefunden zu beten. Ein Anderer lag halb aufrecht an einen Baum gelehnt, die Hände wie zum Schutze vor das Gesicht haltend. Hier war nur der Untertheil eines menschlichen Körpers, während zwanzig Schritte weiter der Kopf mit dem entsetzlich zerrissenen Rumpfe zu finden war. So ging es fort in dieser Allee von Leichen. Wir machten hier auch einen uns sehr erwünschten Fund. In der Mitte des Weges lag ein Pulverwagen mit erschossenem Pferde. Das todte Pferd aus-, eines der unseren einspannen und unsere Bahren und Vorräthe, welche uns den Marsch sehr erschwerten, aufladen, war das Werk eines Augenblicks. Und nun ging es wieder vorwärts, immer durch Leichen.

Bei einer Biegung des Weges standen wir ganz urplötzlich auf zehn Schritte vor einer französischen Patrouille und hier auf der Höhe, von wo aus wir Metz vor uns sehen konnten, merkten wir erst, daß wir auf kaum ein Kilometer an die Außenforts herangekommen waren. Unser rothes Kreuz schützte uns. Wir passirten dann Lauvallières, wo ein einzeln stehendes Wirthshaus als Feldlazareth benutzt wurde. Bis an die Mauer des Hauses heran lagen die Todten. In dem kleinen Gärtchen lag wieder eine Reihe von Leichen, dürftig mit Stroh bedeckt, Opfer der letzten Nacht. Da es auch hier am Nöthigsten fehlte, wurde einer unserer Herren nach Courcelles zurückgeschickt, um Vorräthe hierher zu schaffen. Das gleiche Loos traf leider auch mich bald darauf von Nouilly aus, wo wir das dritte Feldlazareth fanden.

Aus einem mit Chassepots beladenen Wagen fuhr ich zurück über das ganze Schlachtfeld. Nie werden sich mir die Eindrücke verwischen, die ich hier empfangen. – Man begann gerade die Todten zu begraben. Hart an dem Wege war eine große Grube. „Eins, zwei, drei,“ zählte der Unterofficier bis vierzig. „Nun zugescharrt!“

Wenn irgendwo ein dunkler Ehrenmann ruhig in seinem Bette verschieden, erhebt sich ein unsägliches Lamento, der Pastor hält eine rührende Grabrede und das Wochenblättchen fühlt sich veranlaßt, in einem Nekrologe zu schildern, was der Verblichene als Staatsbürger, Gatte und Vater gewesen – und hier, die, welche für das Vaterland den Heldentod gestorben, wie kollern sie hinab in die gähnende Grube, Leiche an Leiche, schmutzig und blutig! – Erde drauf – Requiescant in pace!

Franz Bittong.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_635.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)