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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Bisher hatten sie immer noch ihre Angriffsfront gegen Deutschland stehen, durch diese Umgehung wurden sie zur Umkehrung derselben auf ihre naturgemäße Rückzugslinie nach Chalons und Paris zu gezwungen. Diese Rückzugslinie wurde ihnen durch die heißen blutigen Kampftage des 16. und 18. August, wo sie den Vorstoß nach Verdun machen wollten, durch den Prinzen Friedrich Karl abgeschnitten, und wenn diese Zeilen nach Deutschland gelangt sein und aus den Schnellpressen der Gartenlaube hinaus in alle Welt gegangen sein werden, dann hat sich sicherlich das Schicksal dieser so großen und wahrhaft vortrefflichen Armee erfüllt: entweder hat sie die preußische Cernirung zu durchbrechen versucht und ist geschlagen worden, oder aber sie hat sich in Metz, wo Hunger und Krankheiten zu wüthen begonnen haben, nicht mehr halten können und sich ergeben.

Man hatte am Morgen des 17. August, also nach dem Tage von Vionville, geglaubt, daß die Schlacht fortgesetzt werden würde. Der Oberbefehlshaber Prinz Friedrich Karl hatte am 16. Abends die blutige Wahlstatt erst um zehn Uhr Nachts verlassen, war am nächsten Morgen vier Uhr bereits wieder auf dem Schlachtfelde und blieb beobachtend in der Nähe desselben bis zum Nachmittage des 17., wo er in sein Hauptquartier Buxières zurückkehrte. Die Franzosen schienen keine Lust zu haben, den Kampf am nächsten Tage wieder aufzunehmen, es war ihnen am 16. zu fühlbar geworden, was brandenburgische und preußische Hiebe sind. Das brandenburgische dritte Armeecorps, dessen Generalcommandeur der Prinz bis vor Kurzem war, hatte acht Stunden lang gegen eine zweifache Uebermacht allein ohne alle Reserven im Feuer gestanden, bis das zehnte Armeecorps des Nachmittags eintraf und durch seine energischen Angriffe auf den rechten französischen Flügel dem dritten Armeecorps Luft machte.

Ehre, dreimal Ehre für Brandenburg! Aus zwei S, aus Sand und Sumpf, ist diese von allen Gegenden unseres herrlichen Vaterlandes am wenigsten begünstigte Provinz der Mittelpunkt und Kern des preußischen Staates geworden. Der Bewohner der Mark muß Alles und Jedes im Schweiße seines Angesichts dem undankbaren Boden abringen, aber dieser tägliche elementare Kampf um das Dasein stählt die Kraft, übt die Widerstandsfähigkeit und verleiht jene knorrige Zähigkeit, die namentlich dem heftigen Angriffe der Franzosen gegenüber am Tage von Vionville von solch glorreichem Erfolge war. Die hartnäckige Widerstandsfähigkeit jener vom Sand überschwemmten Gegenden im Norden Deutschlands, von der die Hohenzollern im Anfang viel zu leiden hatten, haben sich diese nutz- und dienstbar zu machen gewußt; mit Brandenburg haben sie ihre herrlichste Siege erfochten und die größten der Familie, der große Kurfürst und der große König, waren so echte rechte Naturen von märkischem Schrot und Korn, die niemals klein zu kriegen waren. Aus den Gräbern der heldenmütigen Officiere und Mannschaften bei Vionville auf der Höhe sprossen deine blutigen Lorbeeren, o Brandenburg!

Am Morgen des 18. August früh vier Uhr war allgemeiner Aufbruch aus dem Hauptquartier voll Buxières. Der Tag war kaum herauf, die Nebel lagen noch rings auf den Höhen und durch den Morgen ging ein fast schon herbstlicher Zug. „Die reiten in einen blutigen Tag,“ mußte man sich sagen, als der Höchstcommandirende und die Suite das Hauptquartier verließen; dasselbe war für den Prinzen ein einstöckiges Haus mit zwei kleinen nothdürftig meublirten Stuben, für den Generalstab ein Haus von nicht größerem Gelasse und für die Adjutanten und Ordonnanzofficier eine größere Scheune. Ich und mehrere Herren von der Armeeintendantur kamen in einem Wagen einige Stunden später nach. Wir nahmen die Straße nach Mars la Tour. Auf dem Wege dorthin begegneten wir bereits den Spuren des Kampftages von Vionville. An der Chaussee, in den Gräben, auf dem Felde lagen todte Pferde zerschossene Helme, zerbrochene Gewehre, geöffnete Tornister mit zerstreutem Inhalte. Rings umher deutete die aufgewühlte Erde an, daß hier crepirte Granaten ihre Schuldigkeit gethan hatten; in einiger Entfernung fand man die Splitter und die Zünder, und diejenigen, die davon getroffen waren, die stöhnten vielleicht noch von den Schmerze oder rangen mit dem Tode, oder sie hatten die Fahne des Lebens in der Jugend vor dem grausamen Tode schon gesenkt. So ein geöffneter Tornister mit allen Spuren des Lebens desjenigen, der es vielleicht bereits hat lassen müssen, so einzeln verstreut, gleichsam der niedergesunkene Bote und Erzähler von all dem Todesleiden und Schlachtengrauen, das dahinter liegt – das ist ein gar seltsam tief die Seele bewegendes Ding. Da liegt das Wenige, was ein Soldatenleben braucht: ein Hemd, ein Paar Stiefel, Bürsten, Putzzeug, ein Soldbuch, ein paar verknitterte Briefe aus der Heimath und in einem halbzerrissenen Couvert eine Photographie, das Bild eines jungen, hübschen Mädchens, und in das Tornisterfutter ist sauber kalligraphisch der Name des Besitzers eingeschrieben: „Zierath, 9. Compagnie, 24. Regiment.“ Das Daliegen des Soldatenstückes ist der Beweis, daß der frühere Besitzer all das Tornister- und Schanzzeug des Lebens abgeworfen hat und dahin gegangen ist, wo Aller Heimath ist.

Wir kamen auf die Höhe, wo sich die Wege rechts nach Tronville und geradeaus nach Vionville und Rezonville scheiden; ein Wegweiser stand wohl da, aber die Franzosen hatten die Namen von demselben ausgewischt. Die Sonne stand an einem wolkenlosen Himmel; da, wo vor achtundvierzig Stunden ein Geschützfeuer wüthete, wie es vielleicht in der Weltgeschichte noch nicht erhört war – denn mit solchen Geschossesmassen haben noch nie zwei Mächte sich begegnet wie jetzt die beiden größten Militärstaaten der Welt –, wo die Schlacht am wüthendsten getobt hatte, da war jetzt Stille und Friede. Unten vom Kirchthurme von Vionville herauf schlug die Uhr wie zu allen Zeiten, und links an der Straße grub man die Gräber für die braven Officiere des vierundzwanzigsten und vierundsechszigsten brandenburgischen Regiments, und siehe – es waren nicht wenige.

Auf der Höhe hielt der Prinz mit seinem Stabe, Ordonnanzofficiere mit Befehlen entsendend und Meldungen empfangend: Drüben auf den Höhe von Flavigny war eine lange Cavalcade zu bemerken; es war König Wilhelm mit seiner Suite. Rings friedliche Stille, kein Schuß war zu hören; nur die Aasgeier tummelten sich mit lautem, fröhlichem Geschrei in der Luft, ihr Festtag war angebrochen. Wir standen an einer Stelle der Straße, die noch schwarz gefärbt war; am 16. August war an derselben ein französischer Munitionswagen in die Luft gegangen und hatte vierzehn in der Nähe befindliche Pferde auf einmal getödtet. Hunger und Durst stellten sich bei uns ein; wir lechzten nach einem Trunk Wasser, und nirgends rings umher eine Quelle oder ein Brunnen; in Vionville unten war ein einziger, und ich unternahm es, mit ein paar geleerten Flaschen versehen, Wasser herbeizuschaffen. Als ich in das Dorf hinabkam – welches Bild der Verwüstung und des Grauens! Die Wohnungen waren zerschossen, kein Fenster, kein Fensterladen, keine Thür mehr ganz; auf der Straße, in den Gräben lagen verstreut zerrissene Uniformstücke, Waffenröcke, Epaulettes, Tornister, Kochgeschirre, Säbel, Gewehre, Käppis, Feze; vor den Häusern und in den Häusern lagen auf Strohsäcken oder meistens auf blankem Stroh die Verwundeten vom vorgestrigen Tage, nur erst nothdürftig verbunden; sie stöhnten in deutschen und französischen Schmerzeslauten oder riefen die Vorübergehenden um Brod, um Wasser an, und dabei drohten die zerschossenen Dächer jeden Augenblick über den Unglücklichen zusammenzustürzen. Franzose oder Deutscher, das war ganz gleich, es war ein Schmerzensschrei, ein Schrei um Barmherzigkeit, derselbe Jammer, dieselbe Noth und das gleiche Bedürfniß. „Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an.“ Wehe, wehe, wehe demjenigen, über den all dieses vergossene Blut, all dieses Schmerzenswimmern, alle diese Leichen, der ganze Fluch der darniedergetretenen Civilisation und der brutal zerstörten friedlichen, glücklichen Existenzen einst kommen werden!

In einem Hause des Dorfes sollte frisches, reines, gutes Wasser sein. Ich ging mit meinen Flaschen hinein, füllte diese und brachte sie mit vollem Inhalte und wiederholt so lange, bis dem Bedürfnisse genügt war. Bei einem zweiten Gange wurde ich trotz meiner großen Eile aufgehalten und noch dazu durch eine Scene der widrigsten Art. Aus einer Nebengasse des Dorfes, die ich passiren mußte, ertönte plötzlich ein wilder Lärm. Stimmen wurden in wirrem Durcheinander laut, sehr deutsche Laute: „Die alte Hexe, das Aas, das Scheusal, sie muß gehängt werden!“ Damit deuteten die Soldaten, von denen der Tumult ausging, durch ein offenes Fester ebener Erde. Neugierig gemacht, trat ich näher und frug die Soldaten, was es denn da drinnen gäbe.

„Sehen Sie nur, dort das alte Weib, das geknebelt am Boden liegt, das hat auf dem Schlachtfelde vorgestern Verwundeten die Augen ausgestochen, anderen die Finger abgeschnitten und die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_602.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)