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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


hatte, was ihre Seele an ihrem natürlichen Elemente, der harmlosen und stets frisch quellenden Heiterkeit, verloren, sich in ihr durch eine eigenthümlich muthvolle Entschlossenheit ersetzt. Eine Weile hatte sie einsilbig und wie still sinnend ihre Umgebung beobachtet, die jetzt in seltsamer Gespanntheit und Befangenheit zusammen verkehrte. Durch die Erlebnisse, die Alle so nah berührten, auch innerlich nahe zusammengeführt, fühlte sie sich in einen engen Kreis der Interessen gebunden und dann durch ihre gegenseitigen Verhältnisse wieder in eigenthümlichster Weise sich einander gegenübergestellt. Wie furchtbar aber dies auf Allen lastete, es war doch Keinem möglich, schien es, das Eis zu brechen, um sich mit voller Offenheit entgegenzutreten. Melusine sprach wiederholt mit ihrem Vater davon, daß sie nun ohne Verzug weiter wandern müßten, daß ihnen nichts übrig bleibe, als Abschied zu nehmen und einzig ihre Hoffnungen auf die französischen Aussichten zu stellen. Und wenn ihr Vater dann resignirt antwortete: „Wohl denn, so laß uns ziehen; ohne Hülfsmittel, wie wir gekommen,“ dann schien doch wieder Melusine der Muth zu fehlen; sie bat inständig den Vater, von ihrer Abreise noch nicht zu reden; sie seien Annetten, über welche doch zum Unglücke nur ihre Ankunft allein die schreckliche Katastrophe gebracht, allen Trost, alle Stütze schuldig; welche sie ihr bieten könnten, und noch bedürfe Annette ihrer. Graf Ulrich war schweigsam; er schrieb Briefe, er verkehrte mit seinem Rentmeister; gegen Melusine hatte er eine gewisse stille Aufmerksamkeit; so zurückhaltend er in Worten gegen sie war, lag doch etwas von fortwährender Aufmerksamkeit gegen sie in seinem Wesen – man hätte mehr von dem Betragen eines Bruders, als eines Liebenden darin finden können – von einem solchen verrieth sein ganzes Wesen nichts.

Eines Nachmittags, als er, Papiere in der Hand, von seinem Rentmeister zurückkam, sah er den jungen Geistlichen neben Annette auf einer Bank unter den Kastanien der Terrasse sitzen. Der junge Geistliche sah mit gerunzelter Stirn sehr düster drein; doch sah Ulrich, als er näher kam, Thränen an seiner Wimper hängen. Die Thurmschwalbe blickte ruhig Ulrich entgegen.

„Ich will es so!“ sagte die Thurmschwalbe ruhig. „Ihr habt Alle keinen Willen hier, und darum soll der meinige gelten. Du weigerst Dich, ihm zu gehorchen, Heinrich – und Du sollst sehen, daß ich Stärkere als Du unter meinen Willen zwinge – zum Beispiel den Grafen Ulrich hier, der, das wirst Du einräumen, stärker ist als Du.“

„Und wozu wollen Sie mich zwingen, Annette?“ fragte mit flüchtigem Lächeln Graf Ulrich, an den sie ihre letzten Worte gerichtet hatte.

„Daß Sie ehrlich seien, Graf Ulrich!“

„Mein Gott,“ fiel der Graf hastig ein, indem er tief erröthete, „glauben Sie denn, ich bedürfte dazu, von Ihnen gezwungen zu werden? Wenn ich zögerte, mich Ihnen gegenüber auszusprechen so geschah das ganz allein aus Scheu, den Gegenstand zu berühren; ich dachte, es sei nicht tactvoll, schon jetzt Sie mit geschäftlichen Dingen heimzusuchen, und was die Hauptsache angehe, so würden Sie stillschweigend voraussetzen, daß ich – ehrlich sei! Ich habe mir eben die letzten Abrechnungen des Rentmeisters geholt – da nehmen Sie sie – Sie können den ganzen Betrag der Einkünfte von Maurach daraus ersehen, den ich von meinem Eintreffen hier bis jetzt bezogen habe und Ihnen zurückerstatten muß …“

Annette sah ihn verwundert an, während er so sprach, dann, wie sich sofort in seinen Gedankengang findend, sagte sie: „Es ist wohl eine hübsche Summe, die Sie mir schuldig sind?“

„Immerhin ein paar tausend Thaler, wozu noch der Preis des Pferdes kommt, das ich nicht befugt war zu verschenken …“

„Und das,“ sagte Annette lächelnd, „ich Ihnen sehr, sehr hoch ansetzen werde! Ach,“ fuhr sie dann in verändertem Tone fort, „wie thöricht ist das! Sie sind so stolz und glauben, unter Ihren Willen müßte sich Alles beugen – die arme Thurmschwalbe müßte in demüthiger Bewunderung Ihrer Delicatesse sich von Ihnen baar auszahlen lassen, was Sie doch im besten Glauben an sich genommen und wofür Sie auch die Sorge und Last der Verwaltung dieser Herrschaft gehabt haben! Sie irren, Herr Graf, unsereins hat auch ein Recht, stolz zu sein und das zurückzuweisen, was ihm nicht zukommt, was er nicht will! Sie haben eine ganz andere Pflicht der Ehrlichkeit, und von der wollt’ ich reden.“

„Und welche wäre das, Sie stolze Dame?“

„Mit Fräulein Melusine zu reden.“

„Worüber?“

„O, Sie verstehen mich. Oder nicht? Muß ich Ihnen sagen, daß ich recht wohl durchschaue, was in Ihrem Herzen vorgeht, nachdem ich Melusine zu Geständnissen bewogen, die mir genug Fingerzeige gaben, um klar zu sehen? Sie sollen reden zu ihr, wie es Ihnen um’s Herz ist – das verlangt die Ehrlichkeit von Ihnen …“

Graf Ulrich hatte sich, ein wenig entfernt von ihr, auf die Bank niedergelassen. Er sah vor sich nieder, bis er nach einer Weile, noch immer zu Boden blickend, sagte:

„Ich glaube kaum, Fräulein Annette, daß Sie, so wie Sie sagen, Alles durchschauen, Alles wissen, was sich zwischen uns ereignet hat, zwischen Fräulein Melusine und mir! Was Sie aber vielleicht wissen, ist, daß ich ihr meine Hand angeboten habe und daß sie dieselbe ausschlug und ziemlich schnöde obendrein; und ich glaube, das genügt, um Ihnen zu zeigen, daß ich nicht mehr darauf zurückkommen kann.“

„In der That – genügt das?“ rief eifrig Annette aus, „genügt das, um Ihnen das hochmüthige Bewußtsein zu geben, wie männlich und vorwurfsfrei Sie ihr gegenüber dastehen; genügt das, um Ihnen Ihr Betragen zu dictiren, welches eine ganz häßlich egoistische Ausbeutung des Vortheils ist, den diese Thatsache Ihnen gegeben hat? Wissen Sie, welchen Eindruck Sie mir machen mit Ihrem abscheulichen zugeknöpften Wesen gegen Melusine? Als ob auf der Stirn geschrieben stünde: ich bin der Beleidigte, der Edle, Verkannte, der großmüthige Verzeiher; an ihr ist’s, sich zu demüthigen, und Vergebung flehend mir entgegenzukommen …“

Graf Maurach schüttelte den Kopf.

„Wenn mein Betragen diese Auslegung zuläßt –“ sagte er; aber Annette unterbrach ihn:

„Ja, ja, diese Auslegung ist die einzige, die man ihm geben kann,“ rief sie aus, „und so ist’s sehr wenig großherzig und sehr stark egoistisch, sehr männlich …“

„Dann,“ fiel er ein „bleibt mir nichts übrig, als zu gehn!“

„Gehn? Aber um’s Himmelswillen wohin wollten Sie gehn?“ fragte Annette verwundert.

„Wohin mein Schicksal mich führt – in die Welt – in Kriegsdienste, wo immer ich eine Stelle finde!“

„Ah bah,“ rief sie aus, „welche Gedanken!“

„Ich meine, sie liegen sehr nahe,“ versetzte Graf Ulrich. „Und sie enthalten zugleich die beste Antwort auf Ihre Forderung, daß ich mit Fräulein Melusine reden soll, wie Sie sich ausdrücken.“

Annette schwieg eine Weile. Dann sagte sie, den Arm plötzlich auf die Schulter des neben ihr sitzenden jungen Geistlichen legend:

„Heinrich, ich thue Dir Abbitte. Ich habe diesen Grafen Ulrich für stärker als Dich gehalten – ich sehe, er ist just vom selben Stoffe wie Du!“

Heinrich sah sie schmerzlich lächelnd an, ohne zu antworten. Graf Ulrich fragte:

„Woraus schließen Sie das?“

„Er sagt,“ versetzte Annette, „er würde es mit seinem Gewissen vereinigen können, voreilig geleistete Gelübde, die er auf sich nahm, ohne zu wissen, was er that, zu brechen, wenn ich nicht die Erbin und Herrin von Maurach wäre. Nun aber, und da er ein blutarmer Mensch sei, litte es seine Ehre, sein Gewissen nicht, seinem Herzen zu gehorchen! Und Sie, Sie sagen mit demselben Egoismus, nun, da Sie ein blutarmer Mensch seien, litte es Ihr Gewissen nicht, Ihrem Herzen zu gehorchen. Seid Ihr nicht Alle trübselige, schwache, thörichte, verächtliche Sclaven Eures Hochmuths? Der blutarmen Melusine haben Sie Ihre Hand geboten. Jetzt, da Sie blutarm sind, verbietet es Ihnen Ihr Gewissen, oder wie Sie es nennen, Melusine Ihre Hand zu bieten – o, es ist empörend, wenn es nicht so kindisch thöricht wäre! Ist es nicht, als ob in Euch Männern ein einziger Drang, Euch zu bewundern, ein jedes andere Gefühl in Euch erstickender Durst nach Großthun vor Euch selber wäre? Und wenn Ihr ihn nicht befriedigen könnt durch ein wirklich edles Thun, durch eine edle, wirklich gebotene Aufopferung, so schiebt Ihr Eure Ehre vor, diese jämmerliche Marionette, an welcher hundert Fäden hängen, die Ihr bald so, bald so zieht. Sie fordert, wie’s Euch gefällt, bald dies, bald das Opfer von Euch; das Opfer aber, das Ihr auf ihrem Altare

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 591. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_591.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)