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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

und Völker eilte in der damaligen Stimmung meiner Seele der Blick den ewigen Weihetagen unserer Nation, den blutigen Siegen zu, die sie draußen auf den Feldern dieser Stadt errungen. Wie rasselt’s und dröhnt’s auf dem Pflaster des Markts! Ganz Frankreich auf der Flucht! Und dort, die Grimmaische Straße her, sprengt der Reiter mit dem kleinen Hütchen tief in der Stirn. Da hält er am „Königshause“, – zum letzten Abschied von dem König, den er zu Grunde gerichtet. Mit „Adieu, Herrn Sächser!“ scheidet er von seinen geschlagensten Verbündeten – und fort mit der hastigen Suite der Hainstraße zu. Sie ist verstopft, der flüchtige Kaiser kehrt das Roß, noch einmal sieht er den Markt von Leipzig, die Petersstraße hinauf folgen ihm seine Trabanten – um den Graben jagt die Schaar, hinter dem geretteten Selbstling fliegt die Elsterbrücke in die Luft und der Fluch von Millionen folgt dem vervehmten Verbrecher an der Menschheit.

Und nun – der Siegesjubel so vieler Völker, er steigt hinauf zum Himmel, zu demselben Himmel, zu welchem rings auf kaltem, blutigem Grunde tausend brechende Augen blicken, tausend Jammerschreie und Klagen der Verwundeten dringen. Und das Alles zu dem Einen Himmel, hinauf zu dem Einen Gott! – –

Und aller Jubel und alles Wehe zog herein in’s Herz der Stadt, auf ihren Markt, aber der Sieg blieb Herr, er blieb der Stolz der deutschen Nation, und über dem Namen „Leipzig“ schwebt der Eichenkranz durch alle kommenden Jahrhunderte der Weltgeschichte. –

So schwärmte ich in jener Mondnacht; das Hochgefühl des Deutschen im Widerglanz jener Tage in der Brust, – aber der Blick ging weiter, und der Kummer über all die Täuschungen, die das treue deutsche Volk dreißig, vierzig, ja fünfzig Jahre lang zu tragen hatte, quoll mir im verbitterten Herzen auf. „Wann wird der Tag kommen, wo in Deutschland Ein Geist wieder Alle erhebt, Alle einigt zu Einer That und nach Einem Ziele?“ – Die verdunkelte Nacht hatte keine Antwort für meine Frage.

Nur ein Trost ging damals mit den Vaterlandsfreunden zur Ruhe und stand mit ihnen auf: das Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Deutschen war geweckt, und kein Reactionsdruck hatte es wieder ersticken können. Und weil sich keine That bot, klammerten wir uns an die großen Erinnerungen an und huldigten dem Ideal in deutschen Nationalfesten. Das Schiller- und das Leipziger Schlachtfest erreichten für die Entwickelung des deutschen Geistes den Werth von Thaten. Nur Eines fehlte zur Vollendung der nationalen Einigkeit: die einträchtig mitschaffende Hand der Fürsten. Jedermann weiß, was dem deutschen Volke ein Jahr nach der großen Volks- und Turnerverbrüderung in Leipzig geschah, und was wiederum zwei Jahre darnach ihm für Rosen blühten auf Schlachtfeldern im Vaterlande.

Und Alles, Alles, Alles dies – heute, im großen Sturmsommer von 1870, ruft’s ganz Deutschland aus: es war unsers Herrgotts Schule für Fürsten und Völker, und heute haben wir ausgelernt, die Prüfung ist bestanden, wir treten mündig ein in’s große Völkerleben als die Macht, die wir nicht eher werden konnten, als bis unsere Zwietracht überwunden war. –

Und Leipzig? Es thut wohl, gerade dies in Leipzig schreiben zu können: der Geist der Bürger in der Stadt der großen deutschen Schlachten und Feste ist nicht hinter dieser Zeit zurückgeblieben. Wir können getrost erzählen, wie hier an der allgemeinen Erhebung Theil genommen wurde.

Noch mitten im Sturme der ersten Begeisterung nach dem Trompetenstoße von der Seine leitete der praktische Tact des vorherrschenden Handels- und Industriegeistes der Bevölkerung zur Arbeit für das Vaterland. Nach vier Richtungen machte sich sofortige und rascheste Thätigkeit nöthig: da Leipzig 1866 Lazarethstadt war, so lag der Gedanke der Vorsorge für die Verwundeten am Nächsten; die Mobilmachung der Landwehr und Reserve lenkte die Theilnahme auf die Frauen und Kinder der vielen Aermeren dieser Wehrclassen hin; daß der Krieg viele von ihnen zu Wittwen und Waisen machen werde, rief eine neue Sorge wach; gleichzeitig mußten Vorbereitungen für die Bewirthung der von hier ab- und der hier durchmarschirenden Truppe getroffen werden.

Wir dürfen es uns nicht versagen, auf Einzelnes einzugehen. Für die Vorsorge zur Pflege der Verwundeten trat zuerst der „sächsische internationale Hülfsverein“, dessen Protectorin die Kronprinzessin Carola von Sachsen ist, auf. Er wandte sich vor Allem an die Frauen und Jungfrauen Sachsens, und um strengste Ordnung in diesen wichtigen Theil der Kriegsvorbereitungen zu bringen; erschien eine gedrängte und klare Belehrung unter der Ueberschrift: „Rathschläge für die Hülfsvereine, Anschaffung und Verarbeitung von Hülfsmitteln für die Kriegslazarethe betreffend“ in allen Localblättern. Und so tüchtig erwies sich die Vaterlands- und Menschenliebe der Leipziger Frauenwelt, daß schon nach wenigen Tagen ihnen ein Dank für nicht unbedeutende Lieferungen von Verbandsmitteln aller Art ausgesprochen werden konnte. Diese Opferfreudigkeit wirkt rastlos weiter, und das ist um so höher zu schätzen, als sie nicht erst durch die jammernde Noth aufgeregt wurde.

Herzergreifend zeigte sich vom ersten Augenblick der Kriegsgefahr an die Auffassung der Unterstützung der Angehörigen unserer Reserve- und Landwehrmänner. Sie galt sofort als nationale Pflicht, und Alt und Jung, Vereine und Einzelne, Männer und Frauen boten die Hand zur nachhaltigsten Erfüllung derselben, und zwar ganz im Geiste unseres Aufrufs im ersten Beiblatt der Gartenlaube. Die Sammlungen dazu ergaben schon nach wenigen Tagen in Leipzig allein über sechstausend Thaler. Nicht wenige Principale und sonstige Arbeitgeber lassen den Gehalt der einberufenen Männer deren Familien zukommen und verpflichteten sich dazu für die ganze Dauer des Kriegs; und während der nach Zöllner benannte Sängerbund dem Zwecke allein tausend Thaler aus der Bundescasse opferte, machten, zunächst für ein Vierteljahr, fünfzig Bäcker sich verbindlich, wöchentlich je zwölf bis fünfzehn Pfund Brod durchschnittlich zu liefern; diese etwa sechshundert Pfund Brod wöchentlich haben bereits manche Thräne trocknen, manche Sorge lindern helfen. Auch dieses Beispiel Leipzigs ging auf alle Nachbardörfer über; immer weiter hinaus vom Mittelpunkte ergehen die Aufrufe, die ihren warmen Ursprung in edlen Herzen fanden. Und wahrlich; es bedurfte nur eines Ganges zu den Sammelplätzen der Abmarschirenden und auf die Bahnhöfe; um die Theilnahme für die Lieben der Männer, welche in ihrer Armuth dem Vaterlande das größte persönliche Opfer bringen, immer lebendiger werden zu lassen. Auf dem Wageplatze unweit des Thüringer Bahnhofs stand eine Compagnie solcher Wehrmänner. Man konnte sie schon von Weitem, auch ohne die Montur zu prüfen, als solche an den vielen Frauen und Kindern erkennen, welche gleichsam ein drittes Glied der beiden Soldatenreihen bildeten. So lange es nur immer der Dienst erlaubte, hielten viele der Männer noch die jüngsten Kindchen auf dem Arme und ließen die andere Hand auf den Häuptern der anderen Kinder liebkosend ruhen. Eines der Kindchen war außer sich vor Freude über den Tornister des Papa und wandte ihm all’ seine streichende und patschende Zärtlichkeit zu. Auch beim Abmarsch wich diese Begleitung nicht von Reih’ und Glied bis zum Bahnhof und bis der letzte Befehl zum Einsteigen Alles auseinanderriß, was Himmel, Kirche und Natur für ewig verbunden hatte. – Ein Wort aus einem solchen Frauenmund des Volks war’s, das alle Umstehenden tief ergriff: „Ach, was gilt nun unter den Tausenden dort mein einziger Mann, der mir Alles, Alles in der Welt ist!“ –

Ist es wirklich jetzt für solche Frauen ein Trost, daß sie täglich lesen, wie eifrig für sie als Wittwen gesorgt wird? – Und doch ist diese Sorge so edel und so gebieterisch. Guten Müttern wird sie auch ein Trost sein; wenn sie ihr Auge auf ihre Kinder richten, die ein furchtbares Geschick zu Waisen bestimmt haben kann.

Diese Beziehungen der Scheidenden und Zurückbleibenden gaben dem kriegerischen Bahnhofleben einen ganz andern Charakter, als der spätere Durchmarsch anderer norddeutscher Regimenter bot. Trotz aller ungeschwächten Begeisterung für den großen Entscheidungskampf um Deutschlands und Europas Zukunft war die Trauer und der Schmerz aus der Stille des Hauses, wo sie sonst sich hinter das Thränentuch in’s Abgeschiedene und Dunkle verkriechen, mit hinaus in’s wogende Gedränge gezogen. Das Weib war herausgerissen aus seiner natürlichen Scheu vor der Oeffentlichkeit, und Liebe und Treue; Freundschaft und Eheglück traten frei hinaus mit allen ihren Aeußerungen. Umarmung, Kuß und Thräne, Alles ist frei; und manche verborgene Liebe verräth jetzt ungescheut die Jungfrau mit dem ersten Blumenstrauß, den sie jetzt – vielleicht als letzten – dem waffengerüsteten Jüngling reicht. Väter und Mütter stehen dabei und ahnen, vom eigenen Schmerz übermannt, nicht, welche süßaufkeimenden Lebensknospen hier vor der Vernichtung zittern. Und die sich nun nicht mehr noch einmal Hand und Mund zum letzten und allerletzten Abschied reichen können, drinnen in den Wagen die Väter und Männer, Söhne und Brüder, Geliebten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_523.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)