Seite:Die Gartenlaube (1870) 495.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

auf eine lange nicht mehr befriedigte Lieblingsneigung erschütterte ihn. Er trat Juli in den Weg und streckte ihr beide Hände entgegen. „Du bist gut,“ sagte er mild, während sie laut aufschluchzend ihm an die Brust sank; „Du bist doch meine Juli … mein Mädel, auf das ich alleweil stolz gewesen bin … mein liebes Kind! … Weine nicht … ich seh’s ja ein, daß Du ’s gut mit mir meinst, und will Alles thun, was Du verlangst – ich geh’ mit Dir, wohin Du mich führst … nur Eins,“ fuhr er fort, da Juli nicht zu sprechen vermochte, „Eins beding’ ich mir aus …“

„Alles, Vater – Alles!“

„Eh’ ich aus dem Land geh’ – muß ich das Bergwirthshaus noch einmal sehen …“

„Warum, Vater?“ rief Juli erschrocken. „Was soll das helfen? Das wird Euch nur schmerzen – thut’s lieber nit!“

„Nein, red’ mir nichts dawider ... das hab’ ich mir lang’ vorgenommen, in meiner größten Betrübniß hab’ ich mich auf den Augenblick gefreut ... und wenn’s mir die Brust zersprengen thät vor Herzleid, ich muß hin – von dort führe mich, wohin Du willst; von dort an gehör’ ich Dein!“

Seufzend ergab sie sich in das Unvermeidliche; als der Abend dunkelte, verließen sie das unheimliche Gebäude, die nächste Morgenfrühe traf sie schon auf der Wanderung in die Heimath; sie wäre in wenig Stunden zu erreichen gewesen, aber der Bergwirth wollte der Eisenbahn nicht nahe kommen, und Juli vermied es, ihn zu bereden. Der Tag neigte sich zum Ende, als sie den Fuß des Westerbergs erreichten; demungeachtet bestand der Bergwirth darauf, ihn noch zu ersteigen. Vergebens bat Juli, den Morgen abzuwarten und die Nacht beim Postbartel in seiner traulichen Bahnwärterklause zu verbringen, vergebens erzählte sie, wie freundlich er sich ihrer angenommen und also gewiß auch ihn willkommen heißen werde; mit gewohnter Hartnäckigkeit blieb er bei der Weigerung, sich vor dem Gange, den er sich nun einmal vorgenommen, vor irgend einem Bekannten zu zeigen; er befahl ihr, bei dem Bahnwärter zu bleiben und ihn zu erwarten, noch vor Einbruch der Nacht werde er sicher zurückkommen.

Es war eine wilde trotzige Lust an eigener Qual, was den Bergwirth so unwiderstehlich noch einmal an den Schauplatz eines verlorenen Lebens trieb; er wollte sich vollsaugen am alten Grimm, seine ganze Seele noch einmal mit allem Haß, mit all der Bitterkeit erfüllen, die das Geschehene in ihm hervorgerufen. Es that ihm wohl, als er die unverkennbare Verödung der schönen kunstvollen Bergstraße gewahrte, an deren Rändern weit herein hohe Farrenkräuter wucherten und der Huflattich seine mächtigen wollgefütterten Blätter üppig wie über ein erobertes Gebiet ausbreitete. Dennoch war ihm eigenthümlich und nicht wie sonst zu Muthe; er konnte die frühere Heftigkeit des Empfindens nicht wieder hervorrufen, er vermißte den alten starren Halt in sich – durch die Versöhnung mit Juli war die Rinde seines Herzens gesprengt, das Eis bröckelte und schmolz vom Anhauch des neuen Gefühls, das wie ein warmer Quell unter ihm aufgegangen. Ungewiß, einem Träumenden ähnlich, erreichte er die Höhe und stand betroffen still. Er hatte davon gehört, wie der reiche Viehhändler sein schönes Heim erstanden; wie er in der Absicht, es so bald als möglich wieder loszuschlagen, keine Kosten daran wende, sondern Alles verkommen lasse; er hatte daher erwartet, eine halbe Ruine zu finden, überall von den Spuren des beginnenden Verfalls gezeichnet – statt dessen blinkte ihm das Haus stattlicher als jemals entgegen, mit frisch getünchten Mauern, neu angestrichenen Thüren und Fensterstöcken, in denen helle Scheiben funkelten. Die Bäume blühten und grünten; der Hof zwischen Haus und Scheune war wie gekehrt, und fröhliches Gebrüll aus den Ställen verkündete reichlichen Viehstand.

Der Wanderer stand eine Weile wie betäubt; es wandelte ihn gleich einer Ohnmacht an, daß er, um nicht umzusinken, sich auf den Brunnentrog setzen mußte. Eine Magd kam heran, Wasser zu schöpfen; er wollte entfliehen, aber die Kniee trugen ihn nicht, er tröstete sich damit, daß er die Kommende nicht kannte, also hoffen durfte, auch von ihr nicht gekannt zu sein.

Er sollte sich bald überzeugen, daß diese Hoffnung ihn keineswegs getäuscht.

„Was ist mit Dir, Alter?“ sagte die Magd und stellte ihren Kübel unter das rauschende Brunnenrohr. „Ist Dir schlecht? Willst einen Trunk Wasser?“

„Nein, nein,“ entgegnete er, „ich bin nur ein bissel weit gegangen und bin das Gehn nicht mehr gewohnt – da hab’ ich mich wohl ein wenig übermüdet … es vergeht schon wieder! Bist Du hier im Dienst? Das Haus sieht ja prächtig aus – hat es doch geheißen, es ginge abwärts mit dem Bergwirthshaus?“

„Hast Du auch davon gehört, Alter?“ sagte die Magd. „Ist schon einmal ’was Wahres dran gewesen, aber bei dem frühern Herrn! Der Narr hat gemeint, es wär’ schon dem Faß der Boden aus, weil wegen der Eisenbahn die Einkehr aufgehört hat. Aber der Neue versteht’s besser! Der hat gesagt: ,wenn es auch kein Wirthshaus mehr ist, so ist es doch ein Bauerngut’, und regiert, daß es eine Freude ist! Er hat eine große Schweizerei eingerichtet und einen Bretterhandel und einen Steinbruch – jetzt ist die Goldgruben wieder da wie zuvor!“

„Wer ist denn der neue Herr?“ fragte der Bergwirth, dem es wieder vor den Augen flimmerte und um die Ohren sauste. „Ist’s denn nicht der dicke Viehhändler, der …“

„Warum nit gar! Der wüste Mensch hat sich gar nimmer verwußt in seinem Uebermuth; ist den ganzen Tag im Land herumkutschirt und hat getrunken und ist im Rausch einmal mit Roß und Wagen in den Straßengraben hineingefallen, daß er das Aufstehn vergessen hat! … Nein, der Hof gehört jetzt einem ganz Andern – dem Herrn Falkner; vielleicht kennst ihn, Alter … er ist Geometer gewesen, wie sie die Eisenbahn gebaut haben …“

„Ja, ja … es ist mir, als wenn ich ihn kennen sollt’,“ murmelte der Alte, indem er aufsprang, als sei der kühle Wasserstrahl neben ihm eine sengende Feuersäule. „Ist er daheim?“

„Nein – er ist im Steinbruch oder in der Dampfsäg’ … kannst ihn aber wohl erwarten, er wird bald heimkommen. Wenn Du ein Anliegen hast, Alter, der hilft Dir gewiß ... der versteht Alles und ist ein Mann wie die gute Stund selber! Was er anpackt, das gerath’ ihm auch, und es fehlt ihm gar nichts als wie eine richtige Frau!“

„Nun – die wird doch nicht schwer zu bekommen sein!“ rief der Bergwirth lauernd und mit grinsendem Lachen.

„Ja, wenn’s nicht einen Haken hätt’!“ lachte die Magd entgegen. „Das pfeifen ja die Spatzen auf dem Dach, daß die schöne Bergwirths-Juli sein Schatz ist, daß er aber sie nit haben kann, weil’s der Vater, der alte Spitzbube, nicht zugiebt … Na, vielleicht geht das auch noch anders, als man denkt,“ fuhr sie fort, indem sie den übervollen Kübel ablaufen ließ und dann auf die Schulter hob. „Es heißt ja, der Alte sei krank und soll nimmer herauskommen dort, wo sie ihn aufzuheben gegeben haben. Es wär’ ein Glück, wenn’s so ging … die Juli hat nichts mehr und darf schon darnach umschau’n, daß sie unter die Hauben kommt … gar so dick sind die Hochzeiter nicht gesät und nit Jeder mag gern einen Zuchthäusler zum Schwiegervater haben … Na, gute Nacht, Alter … geh’ fein nimmer gar zu weit heut’!“

„Ich dank’,“ rief er ihr nach, „ich glaub’, ich werd’s nimmer gar zu weit machen – ich hab’ meinen geweis’ten Weg!“ Wie an dem verhängnißvollen Abende seiner That stürmte er hinweg; wie damals führten Zufall und halbbewußte Absicht ihn nach seinem Lieblingsplätzchen, nach der Niederpoint.

Eine noch größere Enttäuschung wartete dort auf ihn.

Der Wust der Zerstörung war verschwunden; wohl fehlten manche seiner lieben Eichbäume, aber die übrig gebliebenen standen in schönen Gruppen beisammen, als bekäme es ihnen gut, daß sie Raum erhalten, sich auszubreiten. Die Wurzelstöcke waren entfernt, der Hang geebnet, der aufgewühlte Boden abgeglichen – die Natur hatte den an ihr verübten Frevel verziehen und über die Wunden, die ihr geschlagen wurden, wieder ihre hoffnungsgrüne Rasendecke gebreitet, schöner, schwellender, blumenreicher als zuvor.

Der Bergwirth hatte das Gefühl eines Menschen, der den Boden, dem er vertraut, unter sich weichen fühlt.

„Aus! Alles aus!“ murmelte er umherstarrend in wachsender Verwirrung. „Alles weicht von mir, Alles ist gegen mich! Die Welt geht ihren Gang wie zuvor … sie geht über mich hinüber, weil ich mich ihr in den Weg geworfen hab’! … Die Dirn’ hat ganz Recht, wenn sie mich einen Narren nennt … wer mit dem Kopf durch die Wand will, ist nichts Anderes … Und doch! Ich bin kein Narr, denn ich weiß ja, was ich thu … nein, ich bin kein Narr und auch kein Spitzbube … ich hab’ mich nur wehren wollen, wie der Wurm sich gegen den Fuß wehrt, der ihn zertritt!

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_495.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)