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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Der Bergwirth.
Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Schluß.)


„So frei wie der Vogel in der Luft ist jetzt Dein Vater,“ erwiderte der Inspector auf Juli’s Frage. „Wenn er Lust dazu hat, kann er morgen wieder eine Eisenbahn entgleisen machen!“

„Um Gotteswillen, Herr, sagen Sie so ’was nit!“ rief Juli entsetzt.

„Warum? Wie willst Du ’s verhindern, Mädchen? Du traust Dir wie mir scheint, einen großen Einfluß zu, von dem ich nichts wahrgenommen habe … Du bist doch seine Tochter? Und sonst hat er keine? Nun,“ fuhr er fort, als Juli traurig den Kopf schüttelte, „dann wirst Du bald erfahren, wie wenig ihm an Dir gelegen ist. Er hat Deine Briefe gar nicht gelesen und zuletzt nicht einmal mehr angenommen!“

„Nicht einmal gelesen!“ seufzte Juli. „O weh, dann ist’s freilich noch viel schlimmer, als ich mir eingebildet habe!“

„Das glaube ich auch. Du kannst Dich aber gleich selbst überzeugen; ich werde ihn rufen lassen. Tritt bei Seite! Hier in dem Verschlag kannst Du Alles sehen und hören, ohne daß er Dich gewahrt.“

Juli wankte hinter die Bretterwand. Es war ihr willkommen, nicht gleich dem ersten Blick des Vaters zu begegnen; sie fürchtete eine zu große Erschütterung für ihn und fühlte, daß sie selbst der Fassung bedurfte, um nicht von dem Gewichte der Begegnung zu Boden gedrückt zu werden. Es währte nicht lange, bis Schritte näher kamen, die Thür aufging und begleitet von einem bewaffneten Gerichtsdiener ein Mann mit schneeweißen Haaren eintrat, die grell von dem dunkeln Züchtlingswande abstachen, das er trug. Trotz der Entstellung, die der verhaltene Grimm und Gram und der Aufenthalt im Strafhause an Gestalt und Zügen hervorgebracht, erkannte sie ihn augenblicklich. Sie mußte die Zähne zusammenklemmen, um nicht laut aufzuschreien vor Entsetzen und Schmerz.

Der Bergwirth blieb an der Thür stehen; zu Boden starrend, wartete er unbeweglich des Kommenden, während der Inspector dem Diener einen Wink gab, sich zu entfernen. „Ich habe Euch etwas Neues zu eröffnen,“ sagte er, „und noch dazu etwas Gutes! Ihr werdet nicht mehr in die Spinnstube zurückkehren …“

„So darf ich wieder in den Garten?“ rief der Alte und sein Auge blitzte auf.

„Mehr als das; Ihr könnt Euch von nun an eine Beschäftigung wählen, welche Ihr wollt und wo Ihr wollt. … Mit Einem Wort: Ihr seid frei!“

„Frei …“ schrie der Bergwirth auf und seine Brust rang und arbeitete, als wäre plötzlich eine schwere Last auf dieselbe gestürzt, die sie zu zermalmen drohte. Er zitterte, und es war einen Augenblick, als wolle er dem Beamten zu Füßen stürzen und seine Hand erfassen, aber auch diesmal verließ der starre Sinn ihn nicht; er gewann es über sich, die Freude zu bemeistern, das gewohnte hämische Lächeln ging über sein Gesicht und mit gleichgültigem Achselzucken sagte er gelassen: „Frei also? Meinetwegen – es ist doch Alles Eins, zu Grund’ gerichtet bin ich doch. Was liegt daran, ob ich hier verschmachten muß oder draußen als Bettler hinterm Zaun sterben darf?“

„Undankbarer, unverbesserlicher Mensch!“ brauste der Inspector auf. „Ihr freut Euch nicht einmal? Ihr nehmt die außerordentliche Gnade, die Euch zu Theil wird, so hin wie Etwas, das sich von selbst versteht? Ihr fragt nicht einmal, wem Ihr sie verdankt? Wäre es nach meinem Sinne gegangen, keine Secunde an Eurer gerechten Strafe wäre Euch erlassen worden, und Ihr seid nicht einmal begierig, zu erfahren, wer Fürbitte für Euch gethan?“

„Ist’s möglich?“ fragte der Alte wie zuvor. „Fürbitte für mich? Ei, wer sollte das gethan haben?“

„… Vater …“ rief Juli, die sich nicht mehr zu halten vermochte und aus ihrem Verstecke hervorstürzend sich ihm an die Brust warf; aber so heiß ihre Thränen darauf niederströmten, sie vermochten nicht die Eiskruste aufzuthauen, die der Groll darüber gezogen. Wohl war er bei Juli’s Anblick und dem Tone ihrer Stimme zusammengezuckt, aber bald drängte und schob er sie rauh und hastig von sich. „Schau,“ rief er, „so viel Müh’ hat sich die Jungfer um mich gegeben? Hat sie doch noch an den Bergwirth gedacht! Kann mir aber schon einbilden, warum das geschehen ist. Die Jungfer meint wohl, ein Gefallen wär’ den andern werth? Aber da hat sie wirklich die Rechnung ohne den Wirth gemacht … auf die Weis’, wie sie will, kann ich mich nit bedanken …“

„Vater,“ schluchzte Juli, „was hab’ ich Euch denn gethan, daß Ihr so bitter hart mit mir umgeht? Ihr habt mir das Messer in’s Herz gestoßen – müßt Ihr mir’s auch noch umkehren im Herzen … ich verlang’ ja nichts, gar nichts von Euch!“

„So? Freilich, freilich! Hätt’ mirs denken können! Du hast mich nit gebraucht, es hat sich Alles machen lassen ohne mich! Hast mir’s ja deutlich genug gesagt, daß Du nichts wissen willst vom Bergwirth!“

„Das hab’ ich gesagt und bleib’ dabei,“ entgegnete Juli, sich etwas sammelnd, „der Bergwirth bleibt in dem Haus zurück, aber den Vater möcht’ ich hinausführen, der mich einmal so gern gehabt hat – bei dem möcht’ ich bleiben und will ich bleiben mein Leben lang und will mit ihm gehn, wohin er will – fort, wo uns Niemand kennt, in ein anderes Land … ich werd’ überall Arbeit finden und Brod für uns Beide!“

Der Bergwirth lachte auf. „In ein andres Land?“ rief er. „Warum so viele Umständ’ mit einem alten … Die paar Jahrl’n, die ’s mir etwa noch leidet, die werden so auch hinüber gehn! Wenn’s also nit anders ist, dann bedank’ ich mich halt recht schön für die Bemühung und für die Fürbitt’ – und so Grüß Gott und B’hüt Gott gleich mit einander, es wird am besten sein, wir gehn gleich an der Thür auseinander! … Wann darf ich fort?“ fragte er gegen den Inspector gewendet.

„Jeden Augenblick!“ erwiderte dieser. „Ich halte Euch gewiß nicht auf, vollends nicht nach dieser Unterredung! Soll das wirklich Euer Abschied von Eurer Tochter sein?“

„Ja, Herr Inspector … wenn ich frei bin, werd’ ich wohl auch meinen freien Willen wieder haben … nicht wahr?“

Der Beamte wandte sich unwillig ab, Juli trat zu ihm. Die Unbeugsamkeit des Vaters war nicht ohne Eindruck auf sie geblieben, und so weich gestimmt sie vorher gewesen, so regte sich doch auch in ihr etwas von des Vaters Blut. „Reden Sie ihm nicht mehr zu, Herr,“ sagte sie gelassen, aber mit bebender Stimme, „der Vater soll seinen eigenen Willen haben – ich werd’ ihm nicht mehr dawider sein! Ich hab’ mir freilich gedacht, es sollt’ anders kommen, wir sollten bei einander bleiben … er hat es ja selber gesagt, wie fest wir zusammengehören; in einer schweren Stunde hat er das gesagt, aber er will’s anders haben und ich … ich will ihm nit zur Last sein. … Vielleicht,“ fuhr sie fort, und das Zittern ihrer Stimme wurde hörbarer, „vielleicht sind Sie so gut, Herr … und sagen ihm, was er von mir nit hören mag. … Ich hab’ gedacht, wenn er aus dem Haus da kommt, wird er ein andres Gewand brauchen, und hab’ eines mitgebracht. … Und Geld wird er auch haben müssen; da ist, was ich hab’ zusammenbringen können – es ist nicht viel, aber für’s Erste wird es wohl langen …“

„Nun – rührt Euch auch das nicht?“ rief der Beamte mit schimmernden Augen, während Juli ein Päckchen vor ihm niederlegte. Was in dem Alten vorging, war nicht zu erkennen, er stand abgewendet, aber er war rasch hinzugetreten und griff nach dem Päckchen, während Juli, das Tuch vor’s Gesicht pressend, der Thür zuwankte.

An derselben hielt sie inne.

„Da hab’ ich noch was vergessen,“ sagte sie, „der Vater hat immer gern Tabak geraucht – die Pfeif’ mit dem Hirschkopf im Ulmen-Maser, die ihm die liebere war – ich hab’ sie mitgenommen, wie ich fort bin aus dem Bergwirthshaus, und habe sie mitgebracht …“

Sie legte die Pfeife auf den Tisch und schritt wieder der Thür zu, aber sie kam nicht dahin – der Bergwirth stand ihr im Weg. Das harte Gemüth des Mannes hatte die größten Opfer und Beweise von Liebe kalt hingenommen – die kleine Aufmerksamkeit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_494.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)