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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Grund seiner Gemüthsart zu erkennen. Ich weiß noch nicht bestimmt zu sagen, ob Güte oder Strenge hier mehr am Platze ist; ein rückhältiges, grimmiges, verbissenes Wesen ist bis jetzt das Einzige, worüber ich mir klar geworden …“

„Auch ich gestehe,“ unterbrach ihn die Frau, „daß ich die Scheu, mit der ich ihn anfangs betrachtete, noch immer nicht ganz überwunden habe. Seine That hat etwas so Wildes und Furchtbares, daß es mich anfangs Wunder nahm, als ich sah, daß Du ihn zur Gartenarbeit bestimmtest …“

„Ich konnte nicht anders, wenn er nicht sofort verloren sein sollte,“ sagte der Inspector. „Er war körperlich im höchsten Grade angegriffen, und die gewöhnliche Arbeit der Sträflinge, die Beschäftigung an der Spule und Kardätsche brachte ihn in eine so aufgereizte Gemüthsstimmung, steigerte sein wildes, störriges Wesen in einem solchen Grade, daß kein anderer Ausweg übrig blieb, sollte nicht sogleich zu den stärksten körperlichen Zwangsmitteln gegriffen werden, die mir überhaupt verhaßt und dennoch von zweifelhaftem Erfolge sind. Da wir keinen Landbau in der Anstalt haben, verfiel ich darauf, ihm eine Beschäftigung zu geben, welche damit doch einige Verwandtschaft hat …“

„Der Erfolg scheint Dir vollkommen Recht zu geben: die Störrigkeit ist ganz verschwunden; soviel ich gewahr werden konnte, ist er unermüdet fleißig, dabei aber immer so ruhig und gelassen, daß ich nicht begreife, wie er zu einem solchen Verbrechen kam …“

„Ich irre kaum, wenn ich dieser Ruhe nicht recht traue!“ erwiderte der Inspector. „Sie kommt mir vor, wie die Rinde über einem Vulcan, unter der es heimlich ohne Unterlaß weiter gährt und kocht. Wäre sie echt, so müßte ihr die Erkenntniß des begangenen Unrechts vorausgegangen sein; dieser aber kommt mir vor, als ob er sogar noch in der Strafe eine Fortsetzung, eine Steigerung des Unrechts erkenne, das ihm zugefügt wurde; wäre sie echt, wiederhole ich, so müßte sie ununterbrochen sein, während hier die scheinbare Gutmüthigkeit und Ruhe mit Zügen von Härte und Bosheit gemischt ist, wie Flammen, die durch eine dichte Rauchwolke lodern … Du magst Dich selbst überzeugen,“ fuhr er fort, indem er sie leise näher führte, daß sie unbemerkt hinter dem Gärtner standen. „Nun, Bergwirth, habt Ihr die Glocke zum Mittagessen überhört?“

Der Sträfling war bei der unerwarteten Anrede aus seiner gebückten Stellung emporgeschnellt, als ob das giftige Thier, nach dem er fahndete; plötzlich auf ihn losgefahren wäre; dunkle Gluth stieg ihm in’s Gesicht bis an die Schläfen unter das weiße Haar, mit sichtlichem Widerstreben und innerem Kampfe griff er langsam nach der Mütze und athmete erleichtert auf, als der Inspector abwinkte.

„Es kann wohl sein, daß ich das Mittagläuten überhört hab’,“ sagte er, indem er den Blick an den Boden heftete, „mich hungert nicht …“

„Gleichwohl ist es Hausordnung,“ entgegnete der Inspector leichthin und doch mit einem Tone, der an Strenge streifte, „das giebt Störungen und Anlaß zu Beschwerden.“

„Ja, ja … ich weiß schon, Herr Inspector,“ rief der Wirth hastig und abermals erröthend entgegen. „Ich weiß schon, in dem Haus muß man Alles thun, was befohlen wird. … Ich hab’ mich nur noch nicht recht daran gewöhnt, aber ich will mir’s merken,“ setzte er mit unverhehlter Bosheit hinzu, „ … in Zukunft will ich mich allemal hungern lassen, wenn ich muß!“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Deutschlands Schmuckkästchen. So hat man Nürnberg mit Recht genannt, und Jedermann stimmt freudig mit ein in den allbekannten Lobspruch:

„Wenn Einer Deutschland kennen
Und Deutschland lieben soll,
Wird man ihm Nürnberg nennen,
Der edlen Künste voll.“

Und wie voll der gediegensten Kunstschätze ist diese altehrwürdige Stadt! Nicht blos die öffentlichen Gebäude, die Kirchen und Capellen, Rathhaus und Museen bewahren unvergleichliche Meisterwerke der Malerei, der Bildhauerei und aller Kunstgewerbe: ein nicht geringerer Schatz steht in den Bürgerhäusern, ist Familienbesitz, wie ihn mancher Fürst nicht reicher aufzuweisen hat. Und nicht blos im Innern der Paläste und Kirchen, der Gottes- und der Bürgerhäuser hat jede Kunst ihren Thron erhöht, die Stadt selbst ist ein Prachtstück keckster und sinnigster Architectur. Man mag eine Straße oder Gasse Nürnbergs abbilden, welche man will, es ist nirgends nöthig, den Namen der Stadt darunter zu setzen, man erkennt’s auf den ersten Blick: das ist ein Stück von Nürnberg. So ureigenthümlich tritt uns hier die mittelalterliche und freireichsstädtische Physiognomie der Bürgerburg entgegen.

Unsere Illustration zeigt uns die Stadt von der Burg aus, die mit Recht die alte Burg genannt wird. Kaiser Konrad der Zweite hat sie erbaut, der große Franke, welcher um das Jahr 1030 den Gottesfrieden stiftete. Aelter als die Burg noch soll der sogenannte Heidenthurm sein, dessen Götzenbilder der Zahn der Zeit fast bis zur Unkenntlichkeit zernagt hat. Und dort ist der Brunnen von grausiger Tiefe; man kann bis dreißig zählen, ehe ein hinabgeworfener Stein den Wasserspiegel erreicht. Und wenn wir oberhalb des Himmelsthors zur innern Freiung gelangt sind, stehen wir voll Entzücken vor dem originellsten Stadtbild, das zu unseren Füßen aufgerollt ist. Ein zweites Thor führt in den Hof, in welchem die Linde der Kaiserin Kunigunde ihre neunthalbhundertjährige Krone trägt; diese Kaiserin ist eine der wenigen deutschen Heiligen und liegt neben ihrem ebenfalls heiligen Gemahl, dem Kaiser Heinrich dem Zweiten, im Dome zu Bamberg begraben.

Welche Bedeutung Nürnberg als freie Reichsstadt hatte, davon zeugen noch heute die großen majestätischen Bauwerke und die noch musterhaft erhaltene alte Stadtbefestigung. Welche gediegene Kraft drückt sich in den großen runden Dürer’schen Thorthürmen aus! Die Wälle, Gräben mit üppigstem Gartenschmuck und die Basteien, welch’ eine Mauermasse! Und neben dieser Kraft die lachende Zierlichkeit von Dachgiebelchen bis zum Thürdrücker und Kellerfenstergitter. Nirgends opfert man hier dem kalten rohen Bedürfniß, überall dringt die Lust an schöner Form durch und veredelt die einfachste Handelsthätigkeit.

Deshalb gehört aber auch Nürnberg zu den Orten, nach denen man sich immer wieder zurücksehnt, die man mit Freude begrüßt und ungern verläßt und aus denen man sich manch’ liebes Andenken mitnimmt, um sich daheim daran zu erquicken. Möge dazu auch unsere Illustration gehören, welcher wir später einen ausführlichen Artikel werden nachfolgen lassen.




Jeder hat seinen Preis. Man schreibt uns aus Rock Island, Ills.: „Eine Kunstreiter- und Akrobatengesellschaft, genannt ‚de Haven’s Sensations Circus‘, die den Westen Nordamerikas bereist, läßt, um ein großes Publicum heranzuziehen, durch riesenhafte Placate ankündigen, daß vor jeder Vorstellung die einzige Aëronautin der Welt, Miß Lottie St. Clair, in einem großen Ballon aufsteigen wird. – Am 17. Mai gab diese Gesellschaft in der Stadt Rock Island in Illinois Vorstellungen. Um vier Uhr Nachmittags soll der Ballon aufgehen. Eine ungeheure Menschenmasse hat sich am bestimmten Platze versammelt. Der Ballon ist mit heißer Luft gefüllt, fertig zur Auffahrt. Wo aber ist die Miß? Niemand hat sie gesehen. Die Leute beginnen zu toben, der Director flucht und schwört: „Fünfundzwanzig Dollars die Woche und nicht zur Zeit am Platze!“ – Endlich nach langem Suchen wird die größte Luftschifferin der Welt in Gestalt eines Mannes in vollständig betrunkenem Zustande in einer Restauration entdeckt. – Es ist nicht mehr Zeit, das Costum der Aëronautin anzulegen, da die Menge immer ungeduldiger wird. Ohne Umstände wird er zur Gondel geschleift, hineingesetzt, und der Ballon schießt mit einer ungeheuren Schnelligkeit in die Lüfte. Der Wind treibt ihn hoch über den Mississippi gen Iowa nach der Nachbarstadt Davenport hinüber, wo er an Bäumen und Häusern zerrissen wird. Der unglückliche Insasse wird herausgeschleudert, bricht zwei Rippen und wird innerlich schwer verletzt, kommt jedoch mit dem Leben davon. – Die ganze Presse war entrüstet über den Unfug. Jedoch wer wagt nicht sein Leben für einen Wochenlohn von fünfundzwanzig Dollars. Kaum acht Tage sind vergangen, de Haven hat nördlich von hier in dem Städtchen Mc. Gregor in Iowa seinen Circus aufgeschlagen. Wieder steigt sein Ballon in die Luft; diesmal ist der Insasse ein Deutscher, Max Becker mit Namen. Der Ballon wird vom Winde nach Osten getrieben, und als er über die Mitte des Stromes ankommt, fällt er plötzlich herunter in die Wellen. Ehe einige Boote, die in der Nähe liegen, ihn erreichen können, ist Max Becker ertrunken. – Armer Landsmann! – Wer wird der Nächste sein?“




Proclamation des Kaisers Norton des Ersten. Aus San Francisco erhalten wir nachfolgende Mittheilung: Es möchte vielleicht manchem Leser der Gartenlaube interessant sein, zu erfahren, daß Lady Franklin, die Gattin des berühmten Nordpolfahrers, auf ihrer Reise nach Vancouver Island, hier angekommen ist. Es lebt dort ein Ansiedler, welcher vorgiebt, einen Brief von ihrem Gatten an sie in seinem Besitz zu haben, den er nur ihr persönlich übergeben will. Sie ist hoch bejahrt, fast achtzig Jahre alt. Auf Anlaß dieses erließ Norton der Erste, Kaiser der Vereinigten Staaten und Protector von Mexico, eine Proclamation, welche ich hier beifüge:

Proclamation!

Norton der Erste commandirt alle seine Freunde und Anhänger, die Lady Franklin in ihren Nachforschungen zu unterstützen, und er ist sicher, daß jede Aufmerksamkeit, welche jener Dame geschenkt wird, die Anerkennung der wissenschaftlichen Welt, für deren Sache ihr Mann das Leben verlor, finden wird.

Norton der Erste.

     Gegeben San Francisco, den 22. April 1870.“

Am 25. April verfolgte Lady Franklin ihre Mission weiter, welche als eines der schönsten Beispiele weiblicher Treue und Hochherzigkeit erscheint. Der Regierungsdampfer Newbern ist an dem genannten Tage von hier nach Alaska abgegangen, woselbst General George P. Ihrie zum letzten Male die dortigen Truppen abzubezahlen hat, da das Departement aufgelöst und der District dem Departement von Columbia zuerteilt worden ist. Unter den Passagieren nach dort befinden sich Lady Franklin und ihre Nichte.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 464. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_464.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)