Seite:Die Gartenlaube (1870) 456.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

natürlichen Diät überzeugt ist, der entschuldige, wenn ich an seiner Denkfähigkeit oder aber an seiner Wahrheitsliebe zweifle.“ In der That, meine Damen und Herren, eine ganz abscheuliche Alternative, zwischen welche ich mich leichtsinnig begebe. Hier die Scylla der Dummheit, dort die Charybdis der Heuchelei. Sie mögen richten, welche mein gebrechliches Fahrzeug verschlingt! Also zur Sache!

Zur richtigen Würdigung irgend einer diätetischen Lehre gehört streng genommen ein möglichst genaues Verständniß des ganzen Ernährungsprocesses, soweit derselbe von der Wissenschaft erschlossen ist. Ein solches Verständniß müßte ich eigentlich bei Ihnen voraussetzen, oder einleitungsweise zu geben versuchen; ersteres darf ich nicht, letzteres kann ich in der kurzgemessenen Frist nicht, und darin liegt eine gefährlichere Scylla und Charybdis für mich, als die vorhin angedrohte. Zum Glück bewegt sich nur ein Theil der Discussion auf dem Boden der strengen Ernährungsphysiologie, während ein anderer Theil derselben neutrales Gebiet ist, auf welchem der Vegetarianer in schönster Harmonie dem Physiologen die Hände reicht. Immerhin muß ich Sie bitten, einige wissenschaftliche Angaben ohne ausführliche Begründung mit dem guten Glauben, daß ich keinen Schmuggel mit unechter oder zweifelhafter Waare treibe, von mir hinzunehmen.

Um Sie aber doch einigermaßen auf den allgemeinen Standpunkt zu stellen, von welchem aus der Physiolog an eine diätetische Kritik geht, und um Ihnen eine wenn auch flüchtige, doch stellenweise unappetitliche Wanderung durch Küche und Keller unseres Leibes zu ersparen, will ich Ihnen in einem durchweg saubern Bilde, welches ein geistvoller Fachgenosse bis in’s kleinste Detail der Stoff- und Kraftökonomie des Lebens angepaßt hat, die Grundzüge derselben in Kürze anschaulich machen.

Der lebende Körper des Menschen oder Thieres gleicht einem Hause, in welchem eine Dampfmaschine aufgestellt ist, bestimmt, außer gewissen Nebendiensten im Hause selbst, eine äußere Arbeit zu verrichten, z. B. Wasser aus einem Schacht zu heben. Für eine längere Betriebszeit, in welcher Alles in gleichem Stande bleibt, muß gerade wie bei unserem Körper, wenn derselbe z. B. im Verlauf eines Jahres an Gewicht weder zu- noch abnimmt, die Quantität der von außen in das Haus eingeführten Stoffe genau der Quantität der in gleicher Zeit aus demselben ausgeführten Stoffe gleich sein. Ebenso muß, was ich hier nicht näher ausführen kann, die Summe der als Wärme und Arbeit von dem Hause verausgabten Kräfte genau die Summe der eingeführten Kraftvorräthe decken. Was wird in das Haus eingeführt? Erstens Sauerstoff der atmosphärischen Luft, welche durch Thüren und Fenster eindringt, zweitens Wasser zur Speisung des Kessels, drittens das Brennmaterial, sei es Holz, Kohle, Torf, Gas etc., welches bei seiner Verbrennung durch den Sauerstoff die von der Maschine als Wärme und als mechanische Arbeit entwickelte Kraft liefert, ferner Oel oder Fett zum Schmieren des Mechanismus, endlich Eisen und andere Metalle zur Reparatur der abgenutzten Maschinentheile. Die stoffliche Ausfuhr aus dem Hause besteht in Luft, Wasserdampf, den gasförmigen Verbrennungsproducten, unter denen Kohlensäure die Hauptmenge ausmacht, unverbrannten oder halbverbrannten oder unverbrennlichen Resten des Heizmaterials, welche mit Rauch und Asche entfernt werden, endlich den Producten der Abnutzung der Maschinentheile und der Schmiere. Ganz entsprechend gestalten sich die stofflichen Einnahmen und Ausgaben unseres Körpers, ihre Wege und ihre Verwendung.

Wir führen durch die Thore des Mundes und der Nase den Sauerstoff der Luft in unsere Lungen und durch sie in unser Blut ein; wir nehmen Wasser, unvermischt, oder mit Kaffee, Alkohol etc. verunreinigt ein, und endlich verleiben wir uns mit unserer Nahrung dasjenige Stoffgemisch ein, welches dem Brenn- und Reparaturmaterial entspricht. Unsere Nahrung muß uns vor Allem die beträchtliche Menge von Heizstoffen bieten, welche, durch den eingesogenen Sauerstoff verbrannt, die einzige Quelle aller lebendigen Kräfte, welche der lebende Organismus entwickelt und verausgabt, bilden, die einzige Quelle der veränderlichen Kraftmenge, welche durch unsere thätigen Muskeln als mechanische Arbeit zur Erscheinung kommt, sei es als innere Arbeit im Hause, wie die Pumpthätigkeit unseres rastlosen Herzens, sei es als äußere Arbeit, durch welche wir eine Last, z. B. die Last des eigenen Körpers, auf eine bestimmte Höhe erheben, die einzige Quelle der ungleich größeren Kraftsumme, welche in Form von Wärme in stetigem Strome dem lebendigen Maschinenhause entweicht, jedenfalls auch die einzige Quelle der lebendigen Kräfte, welche in unserem Seelenapparate als geistige Arbeit frei werden. Ja, meine Damen und Herren, unsere Seele stehe ihrem eigenen Wesen nach so hoch, wie sie wolle, sie sei das selbstständige immaterielle, unsterbliche Princip, als welches sie definirt wird: so lange sie in dieser irdischen Behausung residirt, ist sie mit der in ihrem unmittelbaren Dienst stehenden Hirnmaschine so sclavisch wie das Stückchen Fleisch, das auf ihr Geheiß arbeitet, dem einen, Alles umfassenden Gesetzbuch der Natur unterthan, vor Allem dem obersten unbeugsamen Paragraphen, den wir das Gesetz der Erhaltung der Kraft nennen, so lange muß sie sich jedes Maß von Kraft, welches sie in ihren herrlichen Erscheinungsformen, Empfindungen, Gedanken, Willensäußerungen entfaltet, von den gemeinen Kräften borgen, welche in der materiellen Speise unseres Hauses schlummern.

Zweitens muß unsere Nahrung das Reparaturmaterial bieten, welches die im Hause aufgestellten Mechanismen immer im dienstfähigen Zustande erhält, die im Dienst abgenutzten Bestandtheile der Gewebe und Säfte des Körpers immer wieder ersetzt.

Drittens endlich soll sie auch Bestandtheile enthalten, welche die Rolle der Schmiere spielen, den Ablauf gewisser Lebensvorgänge, z. B. die Absonderung der Verdauungssäfte, erleichtern, die Abnutzung von Maschinentheilen vermindern.

Es wäre leicht zu zeigen, daß sich auch die stoffliche Ausgabe des Organismus, die Ausfuhr der Verbrennungs- und Abnutzungsproducte, der unverbrauchten und unverbrennlichen Reste des eingeführten Materials etc. vollkommen analog der Ausfuhr des Maschinenhauses gestaltet; es wäre von höchstem Interesse zu zeigen, daß auch die Kräfteabwägung des einen mit der des anderen bis auf’s Kleinste übereinstimmt. Allein, so verlockend die weitere Durchführung des Bildes, so würde sie uns doch zu weit von der Hauptstraße entfernen; unser Thema berührt ja nur die Einfuhr in unser Lebensgebäude und zwar nur denjenigen Theil, den wir soeben als Brenn- und Reparaturmaterial und Schmiere bezeichnet haben. Welche chemischen Stoffe im Allgemeinen den in diesem Sinne zu stellenden Anforderungen Genüge leisten und dadurch die Bedeutung von „Nahrungsstoffen“ erhalten, ist längst festgestellt. Wir kennen auch ziemlich sicher die speciellen Rollen, welche die verschiedenen Arten jener Stoffe spielen, wie weit sie als Brenn- oder Baumaterial dienen; wir haben auf dem Wege der Erfahrung die Mengenverhältnisse ermittelt, in denen der eine und der andere eingeführt werden muß, um unsere Maschine in regelrechtem Gange zu erhalten. Hierüber sind glücklicher Weise auch die Herren Vegetarianer in der Hauptsache wenigstens eines Sinnes mit uns. Soweit sie sich überhaupt um solches physiologisches Detail kümmern und es verstehen, beten sie uns Namen und Charaktere der nothwendigen Nahrungsstoffe nach. Unsere Discussion mit ihnen dreht sich nicht um die Nahrungsstoffe, sondern um die Nahrungsmittel, genauer ausgedrückt, um die Frage, welcher natürlichen Bezugsquelle der Mensch die geeignete Mischung jener nothwendigen Nährstoffe entnehmen soll, gerade so, wie wir auch bei einer bestimmten Dampfmaschine, welche ihre Wärmebildner ja ebenfalls in sehr verschiedener Form, als Holz, Kohlen, Torf, Leuchtgas, beziehen kann, die Fragen stellen: Welches Heizmaterial ist das zweckmäßigste bei der gegebenen Einrichtung der Maschine und der Feuerung insbesondere? Welches giebt am besten aus? Und wenn mehrere im Heizwerth gleich stehen, welches ist das billigste, am leichtesten zu beschaffende? Bringt etwa das eine oder das andere durch besondere Eigenthümlichkeiten oder Beimischungen der Maschine Nachtheil? – Sehen wir also zu, ob in der That der Mensch zur ausschließlichen Vegetarierkost verurtheilt ist.

Ueberblicken wir den Haushalt der Thierwelt im Großen, so tritt uns in ausnahmsloser Gültigkeit der oberste Grundsatz: Leben um Leben, oder Leben durch Tod entgegen. Es ist unleugbare Thatsache, daß die Natur, welche nach der gang und gäben teleologischen Anschauung einen zweckmäßigen Haushaltsplan von Anfang der Dinge an vorschrieb, Mensch und Thier darauf angewiesen hat, das zur Erhaltung des individuellen Lebens erforderliche Material von anderen Trägern des Lebens, Thieren oder Pflanzen, und zwar meistens unter Vernichtung ihrer Existenz, zu entlehnen. Dazu gab sie, wie Sie Alle aus dem Elementarunterricht in der Naturgeschichte wissen, jeder Thierform ihre specifische Organisation, ihre eigenthümliche Ausrüstung mit Mordwerkzeugen und sogenannten Instincten, dem Tiger seine Klauen, sein gewaltiges Gebiß und seinen Blutdurst par excellence, der Spinne ihre Spinndrüsen und den wunderbaren

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_456.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)