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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

scheiden!“ Er mußte das Lied in Gedanken mitsingen immer und immerfort, und er begrub den Kopf in die Kissen, damit der Candidat ihn nicht weinen höre. Aber allmählich sang er sich doch unter Thränen und Schluchzen mit dem traurigen Wiegenliede ein, und es war ihm im Entschlummern, als kehre sein Schutzengel aus zartester Kindheit zu ihm zurück, neige sich mitleidig über ihn und wehe ihm mit sanftem Flügel Trost zu.

Der Candidat stand über ihn gebeugt und betrachtete ihn; er lächelte im Schlafe, die erschöpfte Natur machte ihr Recht geltend. Feldheim ging sachte zum Freiherrn hinein, dessen Zimmer an das Alfred’s stieß. Er lehnte vorsichtig die Thür an, um den Knaben hören zu können, wenn er erwachte.

„Schläft er?“ fragte Salten.

„Ja, Herr Baron.“

Der Freiherr saß an seinem Schreibtisch. Vor ihm lag ein begonnener Entwurf zu einem Testament. Seine Wangen färbte eine ungewohnte Röthe. Seine erloschenen Augen blitzten in einem neuerwachten Feuer. „Geben Sie mir die Hand,“ sagte er zu Feldheim, „setzen Sie sich! Wie viel Uhr mag es sein?“

„Bald zehn Uhr!“

„So wollen wir nicht zögern, dem Grafen die Anforderung zuzustellen, bevor er zu Bett geht.“ Er stand auf und holte aus einem Schrank ein Holzkästchen hervor – er hatte selbst sein Wappen mit der siebenkugeligen Krone darauf geschnitzt, es war ein wahres Kunstwerk. Er öffnete es und nahm ein paar Pistolen heraus. „Das sind die, mit denen wir neulich nach der Scheibe schossen,“ sagte er. „Wer hätte das gedacht!“

„Herr Baron,“ begann Feldheim, „ich komme mit einer Bitte.“

„Sprechen Sie!“

„Herr Baron, ich bitte Sie, überlassen Sie den Grafen meiner Rache!“

Salten richtete einen fragenden Blick auf ihn. „Können Sie das im Ernst von mir verlangen?“

„Ich weiß wohl, ich habe dazu kein Recht, ich bin kein Verwandter Ihres Hauses, kein Gleichgestellter, ich bin nichts als ein Diener; wie kann ich mir anmaßen, Ihnen vorgreifen und ein Verbrechen, das an Ihnen begangen worden, züchtigen zu wollen?“

„So meinte ich es nicht, Feldheim. Ich habe Sie nie als Diener betrachtet, und hätte ich es je, die Treue und Ehrenhaftigkeit, die Sie uns bewährten, hätte Sie uns längst zu einem Ebenbürtigen gemacht. Sie haben ein Recht, diese Bitte an mich zu stellen, und zwar ein doppeltes, denn eine Verirrung, der wir selbst widerstanden, dürfen wir doppelt streng am Andern rächen – und ich weiß, Sie haben gekämpft und gelitten wie ein Held, während ein gewissenloser Bube das stahl, worauf Sie so schwer, so schmerzlich verzichteten.“

Der Candidat verbarg das Antlitz in den Händen, um nicht laut aufzuschreien.

Der Freiherr legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich bin ein alter einfacher Mann, ich habe mich nie in Ihr Vertrauen gedrängt, aber ich sah wohl, was in Ihnen vorging, und ich segne die Bosheit meiner Schwester, die mich zum Zeugen jenes Gesprächs zwischen Ihnen und meiner Frau machte – es ist das schönste Andenken, welches ich aus dieser Welt in das Jenseits nehmen konnte. Aber Angesichts des Todes habe ich auch ein Recht, mit Ihnen zu reden wie ein Sterbender mit dem andern, denn auch Sie, armer Mann, sind todeswund, das fühl’ ich wohl.“

„O Herr von Salten, – meine ganze Mannheit schmilzt dahin!“ rief Feldheim auf’s Tiefste erschüttert.

„Schämen Sie sich dessen nicht, das Eisen, mit dem Sie mich rächen werden, ist nicht weniger hart, weil es schmelzen mußte, bevor es zur Waffe wurde.“

Der Candidat hob den Kopf und sah dem Freiherrn voll in’s Auge – „Ah – jetzt verstehe ich Sie!“

„Ich glaube, daß ich fallen werde, denn meine Hand ist unsicher und mein Blick getrübt. Wer schützt dann mein Weib und mein Kind vor dem Elenden – wenn nicht Ihre unfehlbare Kugel? Dies, mein junger Freund, ist das Ehrenamt, welches ich für Sie aufgehoben habe.“

„Und muß es denn sein, daß Sie erst zum Opfer fallen? Muß erst Ihr armer Sohn den Vater verlieren, die einzige Stütze, bevor der Frevel seine Strafe findet? Lassen Sie mich an Ihre Stelle treten, theurer edler Herr! Nicht aus blutgieriger Eifersucht, die ihre Beute keinem Andern gönnt – aus Liebe für Sie und Ihr verlassenes Kind bitte ich sie darum. O Gott, ich halte aus, was ein Mann aushalten kann, aber die Waffe des Schurken auf Ihr greises wehrloses Haupt gerichtet zu sehen, das – nein – das ertrüge ich nicht!“

„Feldheim,“ rief der Freiherr, „ich vergebe Ihrer Liebe zu mir und Alfred dieses Wort – aber ich hoffe, Sie werden bei kälterer Ueberlegung einsehen, was Sie mir zumuthen, und mir abbitten, daß Sie es gethan! Glauben Sie, weil ich ein Greis bin, ich sei deshalb kein Mann mehr? Bin ich so altersschwach, daß mein Gefühl für die Schande abgestumpft wäre, daß ich nicht mehr wüßte, was ich meinem Namen schuldig bin? Nein, der soll nicht leben, der einem Salten nachsagen könnte, er sei als ein Feigling in’s Grab gestiegen und habe das Rächeramt für seine beleidigte Ehre einem Andern überlassen. Wahrlich! Wer mich so liebt, daß er sein Leben für mich gäbe – kann mich nicht im Ernste so verächtlich sehen wollen!“

Feldheim ergriff des Freiherrn Hand und ehe dieser es wehren konnte, hatte er sie an die Lippen gedrückt. „Sie haben mich tief beschämt, vergeben Sie mir!“

„Nun denn, Feldheim, so frage ich Sie nochmals, wollen Sie mir helfen, meine Pflicht zu thun?“

„Ja, ich will es, aber es ist fürchterlich!“ sagte Feldheim.

„Das ist es nicht, mein Freund. Wie lange hätte ich denn noch zu leben gehabt? was opfere ich? Vielleicht ein paar Jahre trüben Hindämmerns, langsamen Verlöschens, das ist Alles! Ich habe es diesen Abend gefühlt, daß ich bald heimgehe. Wohl dachte ich, daß es in Frieden sein werde – indessen wie viele meiner edeln Vorfahren sind auch nicht auf weichem Pfühl entschlafen! Mag eine Zeit des Friedens anbrechen, wo andere Begriffe herrschen und lindere Mittel, als Pulver und Blei, unlösbare Conflicte schlichten – ich sterbe treu den Begriffen meiner Zeit – und sehen Sie, – so sterbe ich wenigstens im Frieden mit mir selbst!“

Ruhig und klar schaute der Freiherr den jungen Freund an, der sich mit aller Kraft zusammennehmen mußte, um nicht hinter dieser einfachen Größe zurückzubleiben.

„Gehen Sie nun zu dem Grafen, lieber Feldheim, und bewahren Sie Fassung und Mäßigung. Bedenken Sie, daß ich Ihnen einen Eingriff in dieser Sache nie verzeihen würde!“

„Verlassen Sie sich auf mich. Welche Vorschläge habe ich dem Grafen zu machen?“

„Ich dächte, auf fünf Schritt Barrière!“

Feldheim erschrak. „So nahe?“

Der Freiherr trat mit gehobenem Haupte auf Feldheim zu. „Bedenken Sie, mein Lieber, daß ich entweder sterben oder tödten will – einen Mittelweg giebt es da nicht!“

„Sie haben Recht!“ sagte Feldheim und sein Gesicht bedeckte Leichenblässe, als er sich zu gehen wandte. „Ort und Stunde?“

„Um fünf Uhr in dem Kastanienwäldchen der Landzunge, wo ich Sie mit Adelheid traf. Ach Feldheim, hätte sie Ihnen ihr Herz geschenkt, wie ich es damals fürchtete, Alles wäre besser, denn ein Weib, das Sie liebt, wäre nicht so tief gesunken!“

Feldheim preßte die Hände auf das Herz, es wollte ihm zerspringen. „Ich danke Ihnen für dies Wort – ich will es Ihnen lohnen – an Ihrem Kinde mit Allem, was ich kann!“

Als er das Zimmer verlassen, kehrte der Freiherr zu dem Tische zurück und schrieb an dem Testament weiter: „Ich ernenne den Candidaten der Theologie etc. Constantin Freiherrn von Feldheim-Sternau, genannt Feldheim, zum alleinigen Vormund meines Sohnes Alfred, sowie zum Vollstrecker dieses meines letzten Willens“ etc.

Als das Testament vollendet und versiegelt war, horchte er an der Thür, ob Alfred noch ruhig sei; er schlief fest. „Gott sei Dank,“ sagte der Freiherr und setzte sich wieder zum Schreiben nieder.

„Armes Kind!“ schrieb er. „Wie ein treuloser Wächter verläßt Dich Dein Vater im Schlaf, und wenn Du erwachst, findest Du ihn vielleicht nicht mehr. Und dennoch darfst Du ihm vergeben, denn er geht, den schlechten Mann zu züchtigen, der Dir das Beste stahl, was Du hattest, Deine Mutter! Armes Kind, Du wirst mit der Mutter auch den Vater verlieren, das ist viel auf einmal und ich weiß nicht, ob ich die Kraft hätte, Dir das anzuthun in diesem Augenblick, wenn ich Dich nicht in den

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