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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


und so erübrigt nur, daß die Bauernregel Recht behält und auf die schönen drei Faschingstage ein schöner, zum Reisen lockender Sommer folgt; wer nach Ammergau geht, wird es sicher nicht bereuen. Wem das religiöse Element vorwiegt, dem wird ein erhebender unauslöschlicher Eindruck bleiben; der weltlicher Gesinnte aber wird bewundernd vor einem Schauspiel stehn, das in seiner Art wohl einzig in der Welt ist und das so recht zeigt, was Gemeinsinn zu leisten vermag, Begeisterung und – Eintracht!




Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)


17. Im Bann der Schuld.

Im Laufe des Nachmittags trat Alfred, wie zum Ausgehen gerüstet, vor das Haus. Er sah sich halb ängstlich um und hinkte dann, so schnell er konnte, von dannen. An der Straße nach Zürich setzte er sich in eine Droschke. „Zum Director Zimmermann,“ sagte er dem Kutscher. Es war ein weiter Weg zu dem Genannten. Nach einer langen halben Stunde hielt der Wagen vor dem prachtvollen Gebäude der orthopädischen Anstalt Zürichs. Alfred hieß den Kutscher warten und stieg die breiten Treppen hinan bis zur Wohnung des Directors. Ein Diener ließ ihn ohne Weiteres eintreten, denn Alfred’s eingeschnalltes Bein war ihm Legitimation genug. Alfred befand sich allein in einem schönen hellen Gemach, dem Wartesalon des Directors und Professors der Chirurgie an der Züricher Hochschule, Doctor Zimmermann.

Die Wände waren mit den Bildern fast aller berühmten Aerzte Europa’s geschmückt. Auf Marmortischen lagen kostbare Albums, womit sich die armen ihres Schicksals harrenden Kranken die Zeit vertreiben konnten, bis der gefürchtete und doch ersehnte Mann erschien, von dessen Ausspruch Heil oder Unheil abhing. Alfred versuchte auch zu blättern und sich damit zu zerstreuen, bis er sich gestehen mußte, daß er nicht sah, was er sah, und nicht las, was er las! Sein Herz schlug ihm, daß es seine Weste hob. Es war aber auch so schrecklich still um ihn her und seine Gedanken waren so schrecklich laut. Er trat an’s Fenster und sah hinab. Es ging nach dem Garten. Da spazierten lauter Verwachsene hin und her, ein trostloser Anblick. Auch Fahrsessel und Tragkörbe mit verkrüppelten Gestalten darin fehlten nicht. Man hätte in diesem Hause den Glauben verlieren können, daß es noch Menschen mit geraden Gliedern gäbe. Alfred seufzte tief. Da öffnete sich die Thür und der berühmte Chirurg trat ein. Alfred kämpfte männlich seine bange Aufregung hinunter vor der imponirenden Persönlichkeit des Arztes.

„Wollen Sie hereinkommen!“ sagte dieser und führte den Knaben in sein Studirzimmer.

Alfred sah mit geheimem Schauder ein paar Gypsmodelle von verkrümmten Körpertheilen herumliegen, auch an sonstigen unheimlichen Attributen eines chirurgischen Studirzimmers fehlte es nicht.

„Setzen Sie sich,“ sagte der Doctor freundlich, und Alfred sank in die Kissen eines großen Lehnstuhls neben dem Schreibtisch. „Sie kommen wegen dieses Beins und so allein?“

„Ja, Herr Director,“ begann Alfred erst ängstlich, aber allmählich sicherer werdend. „Ich bin der Sohn des Barons von Salten draußen in der ‚Enge‘. Niemand weiß, daß ich zu Ihnen ging – ich that es auf meine eigene Hand. Meine Eltern sind sehr ängstlich, sie würde es nicht zugegeben haben, oder sich um mich beunruhigen, und das wollte ich ihnen ersparen.“

„Aller Ehren werth,“ meinte der Doctor.

„Unser Hausarzt,“ fuhr Alfred fort, „äußerte einmal, mir könne nur eine Operation helfen, als er aber den Schrecken meiner Eltern über dieses Wort sah, widersprach er sich und meinte, es werde sich vielleicht auch so machen, und ich sei noch zu schwächlich zu einem gewaltsamen Eingreifen. Seitdem habe ich kein Vertrauen mehr zu diesem Manne. Er spricht den Eltern nur nach dem Munde, das ist nicht rechtschaffen von einem Arzte. Sie verzärteln mich immer mehr, der Doctor, – die Mutter und die Tanten, so kann nichts Ordentliches aus mir werden, und ich bleibe meine Lebtage ein Krüppel an Leib und Seele! Ich habe aber in letzter Zeit gesehen, welch verächtliches Ding solch ein Schwächling, wie ich, ist. Ich mag nicht mehr länger so fortleben und will endlich wissen, ob mir zu helfen ist oder nicht. Sie, Herr Director, sind ein berühmter Mann, Sie brauchen Niemand nach Gefallen zu reden wie unser Hausarzt, Sie werden mich heilen oder, wenn das nicht sein kann, mir es ehrlich sagen!“

Der Arzt sah den Knaben, der am ganze Leibe zitterte, während er so sprach, mit Theilnahme an. „Hm,“ sagte er, „so zart und doch so energisch! Schwache Nerven und ein starker Wille, das verträgt sich schlecht. Na, wollen sehen, was zu machen ist.“ Er stand auf und löste die Maschine von Alfred’s Bein. „Liederliche Bandage! – Entkleiden Sie sich,“ befahl er.

Alfred that wie ihm geheißen. Der Professor untersuchte genau und gewissenhaft. Als er das Kniegelenk bog, trat Alfred vor Schmerz das Wasser in die Augen, aber er verbiß den Schrei. Der Arzt beobachtete ihn scharf dabei. Nach einer vollständigen Percussion und Auscultation aller Organe des Knaben that er endlich den Ausspruch: „Sie haben keinen organischen Fehler, der eine besonders verzärtelnde Erziehung bedingt, Ihr Instinct ist ganz richtig, wenn Sie sich nach einer freieren Lebensweise sehnen, Sie werden allmähliche Abhärtung ertragen. Das Leiden an Ihrem Bein ist eine falsche Anchylose, das heißt eine lockere Verwachsung der Gelenksflächen und Contractur der Beugesehnen.“

„Und ist da zu helfen?“

„Ja, aber allerdings nur durch eine der schmerzhaftesten Operationen, die es giebt.“

„O Herr Director, bitte, sagen Sie mir, welche – ich bitte Sie, betrachten Sie mich nicht als ein Kind, ich bin zu Allem entschlossen, was meinem unerträglichen Zustand ein Ende macht,“ rief Alfred leidenschaftlich.

„Nun denn, mein kleiner nervöser Held,“ lächelte der Arzt. „Ich sehe wohl, man kann mit Ihnen sprechen, wie mit einem Manne. Die Operation besteht in einer gewaltsamen Streckung des Beines, wodurch die verwachsenen und zusammengezogenen Sehnen künstlich zerrissen werden. Man legt Sie auf das Gesicht, schnallt Sie fest und – knack! breche ich Ihnen das verkrümmte Gelenk von innen nach außen gerade. Dann kommt das Bein in einen erstarrenden Verband, Sie müssen sechs Wochen liegen, aber wenn das überstanden ist – haben Sie zwei gleich lange Füße!“ – Der Professor hatte das Alles mit lachendem Munde gesagt, die beste Art, dem Patienten eine beängstigende Mittheilung zu machen. Alfred fühlte aber den furchtbaren Ernst wohl heraus. Seine Pulse stürmten. „Würde ich diese Operation aushalten?“ fragte er.

Der Arzt betrachtete ihn nochmals prüfend. „Sie fiebern schon bei dem bloßen Gedanken. Aber Sie sind eine von den feinen Naturen, die durch Willenskraft oft mehr aushalten als robuste Leute. Ich glaube, Sie werden es überstehen, eine Garantie läßt sich freilich in derartigen Fällen nicht leisten!“

„Herr Director,“ sagte Alfred mit Festigkeit, „ich will die Operation machen lassen, gleich morgen, wenn es Ihnen recht ist.“

„Potz Tausend,“ rief der Doctor, „das nenne ich rasch entschlossen. Wissen Sie aber auch, was Sie thun?“

„Ja, ich kam zum Aeußersten bereit hierher. Darf ich mich bei Ihnen in der Anstalt operiren lassen und auch die ganzen sechs Wochen der Heilung bei Ihnen zubringen?“

„Warum nicht?“

„Darf ich morgen kommen?“

„Ja denn, wenn Ihre Eltern nichts dagegen haben!“

Alfred erschrak. „Meine Eltern? Müssen es denn Die wissen?“

„Ei nun, das versteht sich – denken Sie, junger Herr, ich werde eine solche Cur ohne Einwilligung der Angehörigen an einem Unmündigen machen? Das wäre noch schöner!“

Alfred sank entgeistert in den Sessel zurück. „Dann werde ich niemals geheilt werden,“ sagte er leise, „Meine Eltern geben es

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_238.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)