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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Schlinge geworden, mit der ihn der kluge Nebenbuhler geknebelt und welche er nicht mehr lösen konnte.

„Ja, meine Existenz hängt jetzt an einem Haare,“ murmelte er vor sich hin. „Aber welch’ ein Haar ist es auch!“ Und er holte die versteckten Ringe hervor und küßte die goldenen Fäden, die seine Fesseln geworden waren.




16. La Belle et la Bête.

Drüben bei Hösli’s war Alles wieder im alten Geleise. Man frühstückte, speiste, vesperte zur bestimmten Stunde, Jedes lag seinen Geschäften ob und mit der äußeren Disciplin stellte sich auch die innere wieder ein. Sobald wir einmal dahin gelangt sind, die Zeit einzutheilen, in der wir uns dem Schmerz überlassen, haben wir auch eine sichere Herrschaft über denselben erlangt. Niemand sah Frau Hösli weinen, Niemand hörte sie klagen; was sie durchgemacht und durchgekämpft hatte, das verrieth nur ihr plötzlich ergrautes Haar, und wer das einst so stattliche Paar jetzt sah, der erkannte es fast nicht mehr, die Hösli’s waren in wenig Tagen alte Leute geworden. Dazu kam für Frau Hösli eine neue Prüfung. Sie konnte noch immer nicht gehen, es stellte sich heraus, daß eine wirkliche Lähmung eingetreten war, und bei den Schrecken, die sie durchgemacht, war das kein Wunder. Aber auch das trug sie standhaft und geduldig. Bei einem jähen plötzlichen Unglücksschlag bricht der Mensch zusammen, aber es giebt eine stille Art von Unglück, die sich einschleicht wie ein ungebetener lästiger Gast, von dem man täglich hofft, er werde sich wieder entfernen, und bis man sich überzeugt, daß er nicht mehr zu vertreiben ist, ist man bereits an ihn gewöhnt. So war es mit Frau Hösli’s Uebel. Von Tag zu Tag hoffte sie, es werde wieder gut, und ohne daß sie es wußte, gewöhnte sie sich an ihre Unbehülflichkeit. So schleppte sie sich entweder am Stock oder am Arm eines der Ihren durch das Haus und Keiner sah sie, der ihre stille Geduld und den hohen festen Willen auf ihrer klaren Stirn nicht bewundert hätte. Ihre Kinder wurden fast schüchtern ihr gegenüber, so ehrfurchtgebietend erschien ihnen die Mutter plötzlich.

Aenny war wieder bei Besinnung, mußte aber noch liegen, und Frau Hösli, Frank und Ida Körner theilten sich in ihre Pflege. Frank besonders durfte nie von ihrem Bette, und er war es wohl zufrieden – auch Fräulein Körner!

Eine Woche nach Heiri’s Begräbniß, um dieselbe Stunde, wo sich der Conflict im Hause der Salten entwickelte, wurde Frank zu Herrn Hösli gerufen. Auch Fräulein Körner mußte mitkommen, Frau Hösli wollte so lange bei Aenny bleiben. Als Frank eintrat, fand er sämmtliche Dienstboten versammelt. Er wußte gar nicht, was das bedeuten sollte. Da richtete Herr Hösli der Großvater das Wort an ihn: „Lieber Frank,“ sagte er, „indem wir Schweizer der Meinung sind, daß das höchste Gut des Menschen die persönliche Freiheit innerhalb der Grenzen und des Schutzes der Gesetze sei, so haben wir – mein Sohn und ich – beschlossen, Ihnen, lieber Frank, zum Dank für das Leben unserer Aenny dieses kostbare Gut zu verschaffen. Sie waren zeither zwar wohl frei im Gegensatz zur Sclaverei Ihres Landes, aber nicht in dem höheren Sinne, wie wir es verstehen, denn Sie waren eben doch bei all’ Ihren Fähigkeiten ein Diener und Ihre Zeit gehörte uns für geringen Lohn. Das soll nun anders werden,“ – er überreichte Frank ein großes Schriftstück. „Hier, lieber Frank, ist die Urkunde, daß Sie Bürger von Zürich geworden sind. In Anerkennung Ihrer großen Aufopferung für unser Kind hat der Rath Ihnen mit dem Bürgerrecht ein Ehrengeschenk gemacht. Da nun aber jeder Bürger ein bestimmtes Vermögen und eine Erwerbsquelle nachweisen muß, so haben wir Drei, meine Tochter, mein Sohn und ich zusammen Ihnen ein Vermögen von sechsunddreißigtausend Franken verschrieben, womit Ihnen mein Sohn ein kleines Geschäft begründen helfen wird. Sie sind also von nun an Ihr eigener Herr, und der liebe Gott gebe dem Haus, das Sie sich errichten werden, seinen Segen!“

Frank hatte unter steigender Bewegung zugehört, anfangs war seine Freude grenzenlos; als aber der Großvater von dem eigenen Hause sprach, das er sich errichten werde, da begriff er plötzlich, daß nun seine Stellung zur Familie eine andere werden, daß er das Haus Hösli’s verlassen sollte. – Eine lange Pause entstand, Frank athmete laut und schwer, auf einmal stürzte er seinem Herrn zu Füßen und überschwemmte dessen Hände mit Thränen. „Sennor,“ schluchzte er in seiner Muttersprache, Herr Hösli verstand Spanisch und sprach es meistens mit Frank, „Sennor, schickt mich nicht fort. Ich habe Aenny nicht da oben heruntergeholt, um frei und reich zu werden, ich that’s, weil ich nichts auf der Welt so lieb hatte wie das Kind, und eher will ich verhungern, als unser Kind verlassen! Ihr habt mich doch bis jetzt brauchen können, ich habe ja alles gethan, was Ihr verlangtet, ich will noch viel, viel mehr thun. Ich will Euch dienen, umsonst, für das tägliche Brod, wenn ich nur bei Euch bleiben darf!“

Herr Hösli übersetzte gerührt seinem Vater Frank’s Worte und Ida Körner sagte leise: „Das hab’ ich von Frank nicht anders erwartet!“

„Wirklich? Mir scheint, Sie haben eine sehr hohe Meinung von ihm,“ sagte Herr Hösli gütig. „Nun wahrlich, er verdient sie auch! Steh’ auf, Frank,“ befahl er dem Mohren, „sei kein Kind. Wenn Du nicht fort von uns willst, so wird auch hierfür Rath geschafft. Wir wollen ja nichts als Dein Glück, und wenn Du’s nur bei uns finden kannst, desto besser, wir hätten Dich ohnehin schwer entbehrt.“

Jetzt kam die echte Freude über Frank und ihr Ausbruch war so leidenschaftlich, daß man sich hätte davor entsetzen können, aber die Anwesenden kannten ihn und waren’s schon gewöhnt.

„Geht wieder an die Arbeit, Kinder,“ sagte Herr Hösli endlich; „Ihr wißt nun, wie Ihr Herrn Frank künftig zu behandeln habt. Ihr könnt ihn auch immerhin Herr Inspector nennen, denn so etwas werden wir doch wohl aus ihm machen müssen.“ Herr Hösli lächelte – seit seines Sohnes Tod zum ersten Male!

Fräulein Körner kehrte bewegt zu Aenny zurück, während Frank noch bei den Herren Hösli blieb. Aenny schlief.

„Nun, wie war’s?“ fragte Frau Hösli freundlich.

„Ach, zu hübsch – ich wollte nur, Sie hätten diese Freude gesehen – beschreiben kann man das nicht!“

„Ich kann mir es schon denken – ich bin ja mit Frank aufgewachsen,“ sagte Frau Hösli, „ich gönnte es Ihnen, liebe Ida, daß Sie es mit erlebten.“ Frau Hösli’s Augen, die in letzter Zeit von Thränen getrübt waren, wie ein klarer Wasserspiegel von unterirdischen Quellen getrübt wird, ruhten trotzdem noch mit einem so hellen durchdringenden Blick auf Ida, daß das junge Mädchen verlegen und verwirrt zu Boden sah.

„Wenn ich nur eine Frau für unsern Frank wüßte,“ hub Frau Hösli an, „aber die wird schwer zu finden sein. Er ist zwar groß und schlank gewachsen und hat durchaus nicht das Carrikirte der gewöhnlichen Negerphysiognomie. Aber, ich weiß wohl, es gehört doch Muth und Aufopferungsfähigkeit für ein Mädchen dazu, sich an solch’ einen schwarzen Menschen zu ketten und die eigenen Kinder von einem Anhauch der fremden Race gefärbt zu sehen. Ich fürchte, mein armer Milchbruder wird in unserem kalten Lande einsam durch’s Leben gehen.“

Fräulein Körner schwieg eine Weile, aber sie brachte den Faden durchaus nicht in die Nadel, die sie einfädeln wollte, sie hatte heute keine sichere Hand!

Frau Hösli sah es und betrachtete liebevoll das blonde sinnige Mädchen mit den kräftigen Brauen über den schwimmenden blauen Augen.

Da trat Frank ein. Ida schrak so heftig zusammen, daß ihr die Nadel entfiel.

„Mistreß, Dank – o, viel tausend Dank!“ rief der Mohr und Aenny wachte über seine lauten Worte auf und fragte: „was hat Frank?“

„Ich will es Dir erzählen, wenn Du den armen Frank eine halbe Stunde in den Garten gehen und Luft schöpfen läßt. Seit zwölf Tagen ist er nicht von Deinem Bette gekommen, er sieht schon ganz schlecht aus.“

„Aber Mama, woran siehst Du denn das? Frank ist ja immer gleich schwarz,“ lachte Aenny.

„Ja, aber wenn ihm nicht wohl ist oder er Kummer hat, dann verliert sein Gesicht den dunkeln Glanz und er wird falb. Geh’, mein guter Frank, Ida soll Dich begleiten, sie braucht auch eine Erholung, geht mit einander, Ihr lieben treuen Wärter.“

Frank sah verlegen Fräulein Körner an.

„So kommen Sie, Herr Inspector,“ sagte Ida, und Frank lachte vergnügt wie ein Kind bei diesem Titel, der selbst auf das Gemüth des Mohren seinen Reiz nicht verfehlte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_210.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)