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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Entscheidung gefällt werden konnte, kam die Untersuchung ganz unerwartet in eine andere Lage. Bei der Nachsuchung nach gestohlenem Gute wurde in dem Hause eines wegen Diebstahls schon mehrfach bestraften Menschen eine nicht unerhebliche Summe Geld gefunden, und zwar in einem Verstecke, das äußerst sorgfältig ausgewählt und nur durch Zufall entdeckt war. Der ehrliche Erwerb des Geldes konnte nicht nachgewiesen werden, die in dieser Beziehung gemachten Angaben stellten sich sofort als Lügen dar. Es war daher mit Sicherheit anzunehmen, daß das Geld durch unredliche Handlungen in den Besitz des Mannes gekommen war. Dasselbe wurde mit Beschlag belegt, in Verwahrung genommen, der Fund öffentlich bekannt gemacht und gleichzeitig an die unbekannten Eigenthümer die Aufforderung gerichtet, ihre Ansprüche darauf geltend zu machen und zu diesem Zwecke das Geld in Augenschein zu nehmen.

Unter den Personen, welche sich in Folge dieser Aufforderung bei der betreffenden Behörde meldeten, hatte sich auch die Wittwe des ermordeten Viehhändlers befunden. Die Angaben derselben bezüglich der Summe und der verschiedenen Sorten hatten ziemlich genau mit dem Bestande gestimmt, eine Differenz von wenigen Thalern hatte sich nur bei dem Silbergelde herausgestellt. Die Frau hatte aber auch erklärt, daß, wenn das Geld von ihrem Manne herrühre, sie davon zwei Stücke, einen Papierthaler und einen Ducaten, mit voller Bestimmtheit wieder erkennen werde.

Das Geld war ihr sodann sortenweise vorgelegt worden, erst das Silber- und dann das Papiergeld. Das erstere hatte sie gar nicht berührt, von dem letzteren aber jedes einzelne Stück mit großer Aufmerksamkeit betrachtet. Kein Wort war dabei gesprochen worden, die Anwesenden hatten mit der größten Spannung der Entwickelung entgegengesehen. Bereits waren einige siebenzig Stück betrachtet und wortlos bei Seite gelegt, da hatte die Frau mit einem Male einen Schrei ausgestoßen, einen Schrei, der Ueberraschung und Schreck zugleich ausdrückte; die Hände ließen einen eben erst erfaßten Papierthaler wieder auf den Tisch fallen, die Frau konnte sich nicht aufrecht halten und war auf den ihr untergeschobenen Stuhl niedergesunken. Später hatte dieselbe nicht allein den Papierthaler, sondern auch den gleichfalls noch vorhandenen Ducaten unter Angabe der zuverlässigsten Erkennungszeichen recognoscirt. Man konnte daher kaum noch bezweifeln, daß man das Geld vor sich habe, welches dem Viehhändler jedenfalls erst nach seinem Tode abgenommen worden war. –

Das war das Ereigniß, welches die Untersuchung gegen meinen Gefangenen in ihrem regelmäßigen Verlaufe aufhielt und in eine andere Lage zu bringen schien.

Der Untersuchungsrichter beschäftigte sich von diesem Zeitpunkte an mit zwei Schuldigen. Die Thätigkeit des Einen sollte mit der Tödtung des Viehhändlers abschließen, die Thätigkeit des Andern erst nach diesem Zeitpunkte beginnen, der Eine sollte also Mörder, der Zweite Dieb sein. Ein gemeinschaftliches Handeln Beider wurde nicht angenommen, weil für ein solches alle Anzeichen fehlten.

Die Einzelnheiten der zweiten Untersuchung gehören nicht hierher.

Nach weiteren vier Monaten endlich standen beide Beschuldigte vor den Geschwornen. Beide hatten bis dahin ihre Schuld in Abrede gestellt; gegen Beide konnte der Beweis für die Thäterschaft der ihnen zur Last gelegten Verbrechen nicht direct geführt werden, gegen Beide waren aber eine Anzahl Verdachts-Momente festgestellt, deren Erheblichkeit nicht nach gesetzlichen Bestimmungen abgewogen werden konnte, deren Gewicht vielmehr der freien, durch nichts eingeschränkten Entschließung der Geschworenen anheimgegeben war. Es konnte deshalb auch von dem geschicktesten Rechtsverständigen nicht vorher gesagt werden, wie die Entscheidung ausfallen werde. Die Ungewißheit machte die Zeit bis zum Bekanntwerden des Wahrspruchs für die Beschuldigten peinlich, sie erhielt aber gleichzeitig das Interesse für die Sache in einem weiten Kreise lebhaft.

Mein Gefangener war dabei wohl am wenigsten beunruhigt. Er zeigte sich auf der „schwarzen Bank“ völlig unbefangen; seine Haltung war ungebeugt, sogar straff, seine Sprache fest, sein Blick frei und klar, nichts verrieth Unsicherheit oder Furcht. Als er von dem Präsidenten gefragt wurde: „Bekennen Sie sich schuldig?“ da sagte er:

„Nein, ich bin nicht schuldig. Mir ist himmelschreiendes Unrecht geschehen. Ich sitze länger als Jahresfrist in Haft. Mein Name ist gebrandmarkt, mein Geschäft ruinirt, ja vernichtet, und noch mehr, – noch mehr: der Gram hat zwei Menschenherzen, die jetzt noch in Lust und Liebe mir zur Seite leben würden, gebrochen, gebrochen vielleicht in dem Wahne, daß ich schuldig sei!“

Diese Worte enthielten eine Anklage von unendlicher Schwere. War mein Gefangener unschuldig, wie er zu sein behauptete, wem mußte all’ das Unglück beigemessen werden, das aus seiner Haft hervorgegangen war, und das er mit lauter Stimme in die Oeffentlichkeit hineingerufen hatte? –

Der zweite Angeklagte machte einen widerlichen Eindruck. Aus seinem Gesicht sprachen finsterer Trotz, Furcht und Scheu. Der stiere Blick war stets nach unten gerichtet, und wenn er sich ja von da losriß, so geschah dies nur in Folge einer besonderen Veranlassung und in auffallender Hast. Es kam mir sogar vor, als erwarte der Mensch in jedem Augenblicke einen Schlag und als wisse er nur nicht, von welcher Seite und von welcher Hand er kommen werde.

Dieser Schlag traf ihn, er kam von einer Seite, von der er ihn wohl kaum erwartet hatte.

Die Verhandlung ging dem Ende entgegen. Die Angeklagten waren verhört, die Zeugen und Sachverständigen vernommen; der Staatsanwalt hatte die Anklage aufrecht erhalten und gegen beide Angeklagte das „schuldig“ beantragt; der Vertheidiger meines Gefangenen hatte die Schutzrede gehalten und ein „Nichtschuldig“ gefordert; da wurde der Letztere gefragt: ob er selbst zur Vertheidigung noch etwas zu sagen habe?

Mein Gefangener erhob sich langsam von der Anklagebank, er schien mit einem Entschlusse zu kämpfen und nicht in’s Reine kommen zu können. Als er hoch aufgerichtet dastand, die Arme leicht auf die Lehne der Bank gestützt, ließ er den Blick langsam im Saale umherschweifen und zuletzt mit einem ganz eigenthümlichen Ausdrucke auf dem ihm zur Seite sitzenden Verbrecher ruhn. Aller Augen waren auf den Gefangenen gerichtet, Jeder schien zu erwarten, daß er sprechen werde. Aber er schwieg. Da plötzlich belebten sich seine Augen, seine Hände rissen sich von der Banklehne los, und indem er die eine blitzschnell, aber leicht auf den Kopf des Verbrechers legte, schrie er mit einer Löwenstimme:

„Hier, hier sitzt der Mörder! Sage ‚nein‘, wenn Du es nicht bist!“

Der Mörder – er war es wirklich – zuckte wie vom Schlage gerührt zusammen und – schwieg. Dies Schweigen sagte mehr, als Worte es hätten thun können.

Mein Gefangener blieb stehen und ließ seine Hand auf dem Kopfe des Verbrechers liegen. Er wendete sich zu den Geschworenen.

„Ich glaube in Ihrer Seele zu lesen,“ sagte er, „daß Sie das Schweigen dieses Mannes verstehen; es muß auch den leisesten Zweifel an meiner Unschuld fortnehmen.“

Der Wahrspruch der Geschworenen lautete: nicht schuldig, und das Urtheil des Gerichtshofs: Freisprechung von Strafe und Kosten und sofortige Entlassung aus der Haft.

Als das Letztere verkündet war, stand mein Gefangener auf:

„Herr Präsident,“ sagte er, „erlauben Sie mir nur noch einige Worte. Wie ich jetzt vor Ihnen stehe, bin ich – nicht durch meine Schuld – ein ruinirter elender Mann! Wer entschädigt mich nun – nicht wegen der Leiden, die ich im Gefängnisse ertragen habe, nicht wegen des Verlustes eines geliebten Weibes, denn das läßt sich mit Geld nicht aufwiegen, aber wer giebt mir Ersatz für die pecuniären Nachtheile, die mir durch die Haft zugefügt ist, wer die Mittel, um mir auch die bescheidenste Existenz aus den Trümmern der frühern wieder aufzubauen?“

Der Präsident zuckte mit der Schulter und – schwieg. Die Frage ist noch nicht beantwortet, sie ist augenblicklich noch immer offen. Mein Gefangener hat alle Instanzen durchlaufen, aber bis heute erfolglos. Die Antwort kann ihm nicht gegeben werden, weil es an einer gesetzlichen Bestimmung fehlt.

Darf eine solche Grausamkeit, wie sie nicht vereinzelt dasteht, im neunzehnten Jahrhundert noch ferner fortdauern? Und sollte der nächste zusammentretende Reichstag für diese Frage nicht endlich Abhülfe suchen und schaffen können?




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_100.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)