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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 6. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)
5. Vom Brode des Sinai.

Erregt und erhitzt wie Adelheid war, hatte sie alle Herrschaft über sich selbst verloren und zum ersten Mal, seit Alfred das Licht der Welt erblickt hatte, sah er seine Mutter in solcher Wuth gegen sich. Sie zog ihn durch die Hinterthür in das Haus, um Niemandem zu begegnen und führte ihn in sein Zimmer. Dort warf sie sich auf einen Stuhl und brach in Thränen des Unmuths aus.

„Mütterchen was hab’ ich Dir gethan?“ fragte Alfred erschrocken, „weinst Du um mich?“

„Das fragst Du noch?“ rief die schöne Frau. „Du hast mich hingestellt vor den fremden Leuten, als wäre ich eine Rabenmutter, als erzöge ich Dich zum Menschenfeind und gönnte Dir keinen Umgang. Für wie beschränkt und hochmüthig müssen mich diese Leute halten, wie tief hast Du mich gedemüthigt vor Menschen, denen es ein Vergnügen ist, an Höherstehenden eine Schwäche, einen Makel zu entdecken, der diese wenigstens moralisch unter sie stellt! Und das von meinem eigenen Kinde, dem ich jede Stunde meines Lebens, jeden Wunsch meines Herzens opfere, an dessen Pflege ich meine besten Kräfte setze, dessen Gebrechlichkeit mich tausend Mal mehr leiden läßt als andere Mütter, dessen krankhafte Stimmungen ich mit unerschöpflicher Geduld ertragen muß und das mir nicht einmal mit dem Einzigen lohnte, womit ein Kind lohnen kann, mit Gehorsam!“

Alfred stürzte vor der Mutter auf die Kniee und legte das Gesicht in ihren Schooß, soweit es der grüne Augenschirm gestattete. „O Mutter, ich habe keine Minute vergessen, was Du für mich thust, und es brennt mich wie Feuer auf der Seele, daß Du so viel Plage mit mir hast, aber Du denkst nur daran, was Du leidest durch meine Kränklichkeit und welche Geduld Du mit meinen Gebrechen haben mußt – o, denke auch an das, was ich leide und, und an die Geduld, die ich haben muß, und Du wirst mir verzeihen. Aber ich will ja alle Prüfungen und Entsagungen, die mir mein kranker Körper auferlegt, gerne tragen, ich will Hunger und Durst erleiden, ich will meine schwere Maschine am Beine herumschleppen, ich will Alles ertragen – nur Eines: warum Ihr diese Prüfungen noch erhöhen müßt, warum Ihr mir noch mehr versagen müßt, als mir schon versagt ist, das, Mutter, das kann ich nicht einsehen!“

„Was denn, was versagen wir Dir denn?“ rief Adelheid, die ihn durchaus nicht zu verstehen schien.

„Was, Mutter? Alles! Geradezu alles! Das Licht beschränkt Ihr mir durch den grünen Augenschirm, Gottes freie frische Luft durch beständigen Zimmerarrest, und nun wollt Ihr mir noch schmälern, was so frei, so unermeßlich ist wie die Luft, die uns umgiebt, und so schön, wie das Licht der Sonne – die Liebe, den Glauben an die Menschen. Ich weiß jetzt Alles, denn ich habe heute Nachmittag, während Du Dich anzogst, und ich Dich auf der Bank vor dem Salonfenster erwarten mußte, ein Gespräch von Tante Wika mit dem Vater angehört, das mir die ganze Abscheulichkeit Eurer Grundsätze zeigte. Eben als sie von Dir zu reden anfing, mußte ich weg, weil ich, mit Dir Hösli’s zu besuchen, gerufen wurde. Aber ich weiß es nun: wie mein Bein, so wollt Ihr auch mein Herz einschnüren und wollt meine Liebe tödten. O, wenn Ihr mir kein besseres Dasein gewähren könnt, so laßt mich lieber sterben.“ Er brach in ein lautes verzweiflungsvolles Schluchzen aus.

„Alfred, was ist Dir?“ fragte plötzlich die Stimme des Candidaten. „Entschuldigen Sie, gnädige Frau, die Besorgniß um Alfred, dessen Schluchzen ich hörte, trieb mich herein.“

„Herr Feldheim – o mein – mein lieber Herr Feldheim!“ schrie Alfred auf und warf sich wie Schutz suchend an seine Brust.

„Herr Feldheim,“ rief Adelheid händeringend, „können Sie mir erklären, welche Veränderung mit meinem Sohne vorgegangen ist.“

„Wenn das Maß voll ist, läuft es eben über,“ sagte der Candidat finster und drückte Alfred’s Kopf zärtlich an sich. „Ich habe das längst kommen sehen. Der Knabe steht im vierzehnten Jahre und wie weit er auch körperlich zurückgeblieben – geistig ist er seinem Alter um so weiter vorausgeeilt, wie jedes kränkliche Kind, das zu beständigem Stillesitzen und Nachdenken verurtheilt und immer unter Erwachsenen ist; er mußte sich endlich der Unerträglichkeit seines Zustandes bewußt werden. Ich habe Sie mehrfach darauf aufmerksam gemacht. Sie wollten mir nicht glauben.“

„Mein Gott – Sie fordern stets das Unmögliche für Alfred – und lehren ihn das Unmögliche fordern. Sie setzen ihm Abhärtungstheorieen und Freiheitsideen in den Kopf, die den Knaben zum Widerstand aufreizen. Nicht wir sind es, die ihm sein Leben unerträglich machen, sondern Sie, Sie, Herr Candidat, der Sie ihm eine der unsern entgegengesetzte Richtung geben, der Sie, selbst ein Abtrünniger, Ihre Freude daran finden, auch Andere abtrünnig zu machen und zwar nicht nur einer großen Idee –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_081.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2019)