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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Veränderungen in der Hirnmasse, in seiner geistigen und nicht selten auch in seiner Bewegungs-Thätigkeit weniger frei, schwerfällig und unkräftig; das sind Schwachsinnige oder Schwachbefähigte, und diese verlangen durchaus für sich eine besondere, von sachverständigen Lehrern geleitete Erziehung in einer eigenen Anstalt, nicht aber in der Volksschule, wo sie nur den anderen Kindern in ihrem geistigen Fortschreiten hinderlich sind. Auch besondere Nachhülfestunden in der Schule nützen solchen Kindern nichts. – Eine sehr große Anzahl von meist schwachgenährten Schulkindern, besonders von Mädchen, mit blasser Hautfarbe und bleichen Lippen, die ihres schweren Lernens wegen vom Lehrer sehr oft für faul gehalten werden, sind nur wegen mangelhafter Ernährung ihres Gehirns (in Folge von Blutarmuth oder Ueberanstrengung, nicht selten durch geschlechtliche Unart) trägsinnig. Bei ihnen stellt sich beim Unterricht sehr leicht Hirnermüdung ein. Sie sollten stets apart unterrichtet werden, denn sie können, ohne Nachtheil für ihr blutarmes Gehirn nicht mit den hirnkräftigen Kindern gleichen Schritt im Lernen halten und werden, nicht selten in Folge der falschen Behandlung (Bestrafung) von Seiten des Lehrers, nerven- und gemüthsleidend. Solche trägsinnige Kinder, auf welche der Lehrer sein ganz besonderes Augenmerk zu richten hat, bringen sehr häufig aus der Schule Hirn- und Nervenleiden (Kopfschmerzen, Epilepsie) mit in das spätere Leben. – Sonach bedürfen also Kinder, wenn sie blödsinnig sind, einer Pfleg- und Versorgungsanstalt; – wenn sie schwachsinnig sind, einer von sachverständigen Erziehern geleiteten Erziehungsanstalt[1]; – wenn sie in Folge von Blutarmuth (des Gehirns) trägsinnig sind, einer besondern Schulclasse und eines passenden Unterrichts.




Wie der Turnplatz die Bildungsstätte ist, auf welcher die willkürlich zu gebrauchende Musculatur gekräftigt und zum Gebrauche immer tauglicher und geschickter gemacht wird – so ist die Schule die Bildungsstätte für die Entwickelung, Kräftigung und allmähliche Vervollkommnung der sogenannten geistigen oder Hirnthätigkeit. – Der Schullehrer ist Turnlehrer für’s Gehirn. – Beide Lehrer haben im Allgemeinen nach ziemlich gleichen Gesetzen zu wirken und zu bedenken, daß die Muskeln ebenso wie das Gehirn ihr Thätigsein erst durch Uebung (Gewöhnung, öftere Wiederholung ihrer Arbeit) erlernen und daß dies beiden Organen durch passende Unterweisung erleichtert werden kann. – Die Hauptaufgabe des Hirnturnens (Schulunterrichts) ist aber: die mit Hülfe der Sinne veranlaßten Hirneindrücke auf richtige Weise zur Bildung von Vorstellungen, diese durch Vergleichung mit einander zur Bildung von Begriffen und diese sodann zur Bildung von Urtheilen und Schlüssen, also zum Denken zu verwenden, welches schließlich der Bildung des Gemüths und Willens vorstehen muß. – Nur mittelst des Anschauungsunterrichts lassen sich nun die zum richtigen Denken durchaus nöthigen Hirnbilder dem Schulkinde eindrücken, und gleichzeitig ist durch solchen Unterricht, neben Förderung der Sprachbildung, eine systematische Uebung und Schärfung der Sinne, sowie eine für’s praktische Leben äußerst dienliche Beobachtungsfähigkeit zu erzielen. Leider wird der in den unteren Classen mit so gutem Erfolge eingeführte Anschauungsunterricht in fast allen Schulen sehr bald durch die überhäuften unglückseligen Gedächtnißübungen verdrängt, und deshalb lernen die meisten Erwachsenen auch nicht logisch denken.

Wie ein tüchtiger Turnlehrer vor allen Dingen die Musculatur und die mit dieser im innigen Zusammenhange stehenden und beim Bewegen betheiligten Organe (Knochen, Gelenke, Nerven und Adern) in ihrem Baue und Leben kennen muß, wenn er ihre Thätigkeit richtig entwickeln will; – wie er ferner genau wissen muß, was zum Vortheile und was zum Nachtheile der Musculatur und überhaupt der wichtigeren Körperorgane des Turnenden dient: – ebenso darf der Schullehrer nicht ohne genaue Kenntniß des Gehirns mit seinen Hülfsapparaten (den Sinnes-, Empfindungs-, Bewegungs- und Sprachorganen) sein, wenn er die geistige Thätigkeit gehörig entwickeln will, und ebenso muß er auch Kenntniß von Allem haben, was dem Gehirne und seinen Hülfsorganen, sowie überhaupt der Gesundheit des Schulkindes vortheilhaft und was nachtheilig ist. – Schullehrer und Turnlehrer müssen zuvörderst durchaus die Gesetze kennen, bei denen das Arbeiten des Gehirns und der Musculatur gehörig zu Stande kommen und zu immer größerer Vollkommenheit gesteigert werden kann. Sie dürfen nicht blos die zur Zeit beste Lehrmethode und die passendsten Unterrichtsmittel auszuwählen und anzuwenden verstehen, sondern sie müssen durchaus auch die physikalisch-chemischen Processe kennen, welche innerhalb der arbeitenden Organe vor sich gehen und bei richtiger Unterstützung zur Kräftigung, bei falscher Behandlung zur Schwächung und sogar zur Lähmung der Organe und ihrer Thätigkeit führen können. Beide Lehrer müssen ganz besonders der Thatsache eingedenk sein, daß die Kraftäußerungen ebenso des Gehirns wie der Muskeln von den in der Hirn- und Muskelsubstanz auftretenden chemischen Verhältnissen abhängig sind und hauptsächlich von dem Stoffumsatze, welcher mit Hülfe des Sauerstoffs durch Verbrennungen (Oxydationen) der Hirn- und Muskelmasse zu Stande kommt. Sie müssen bedenken, daß die (dem Ruß im Ofen vergleichbaren) Producte dieser Verbrennungen (nämlich: Kohlensäure, Inosit, Kreatin, Leucin, Milch-, Essig-, Ameisen- und Harnsäure) sich während des Arbeitens des Gehirns und der Muskeln in immer größerer Menge in dem Gewebe dieser Organe bilden und anhäufen und endlich Ermüdung derselben, ja, bei fortgesetzter Ueberanstrengung sogar vollständige (vorübergehende oder bleibende) Unfähigkeit jener Organe zum Arbeiten veranlassen können. Nur wenn diese „ermüdenden Stoffe“ während des Ausruhens jener Organe von ihrer Arbeit mit Hülfe des Blutstromes weggeschafft werden und nun für das Abgenutzte sich neue Gewebsmasse (aus der dem Blute entstammenden Ernährungsflüssigkeit) anbildet, erst dann verliert sich die Ermüdung wieder und die Organe werden zu neuer Arbeit befähigt. Demnach muß dem arbeitenden Gehirne und Muskel stets, und zwar nach der Dauer und dem Grade ihrer Anstrengung bei ihrer Arbeit, mehr oder weniger Zeit zum Ausruhen gegönnt werden, wenn sie nicht Nachtheil in ihrer Beschaffenheit und Arbeitsfähigkeit erleiden sollen.

Wie beim Turnen, so muß auch bei der Geistesbildung auf die Beschaffenheit der arbeitenden Organe Rücksicht genommen und ein schwaches Organ nicht wie ein kräftiges angestrengt werden. Ganz besonders ist aber ebenso bei der Hirn- wie Muskelbearbeitung darauf zu achten, daß ja recht vorsichtig und Schritt vor Schritt von leichteren zu schwereren Uebungen übergegangen werde. Nirgends aber schadet Ueberschreiten des Kraftmaßes mehr als beim Gehirnturnen. – Wie ein guter Turnlehrer nicht blos einzelne Muskelgruppen dieses oder jenes Gliedes üben, sonach nicht blos wenige bestimmte Bewegungen einstudiren darf, sondern dahin streben muß, daß alle nur möglichen Bewegungen leicht, kräftig und geschickt ausgeführt werden können, – eben so wenig darf der Schullehrer nur einzelne Thätigkeitsbezirke des Gehirns zum Arbeiten anhalten, sondern er muß alle dem Gehirn möglichen Thätigkeiten, also Verstand, Gemüth und Willen gehörig zu entwickeln und zu vervollkommnen suchen.

Sowie das Turnen eine zweckentsprechende Einrichtung des Turnplatzes und der Geräthschaften verlangt, so ist für die Geistesbildung und das körperliche Wohl des Schulkindes ein zweckmäßiges Schullocal nebst dem passenden und nothwendigen Unterrichtsmaterial (besonders Anschauungsobjecte) ganz unentbehrlich. Turn- wie Schullehrer müssen die etwaigen Fehler und Nachtheile ihrer Localitäten und deren Geräthe aufzufinden und diesen entgegenzutreten wissen. Der Schullehrer hat seine Aufmerksamkeit ganz besonders auf Luft, Temperatur, Licht, Heizung und Oefen, Tische und Bänke in der Schulstube zu richten.

Ueber die richtige Pflege des Kindes in den Schuljahren und in der Schule nächstens.

Bock. 




  1. S. Stötzner, Schulen für schwachbefähigte Kinder. Leipzig, Winter’sche Verlagsbuchhandlung, 1864.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_071.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)