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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 1. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Doctor Reinhard.[1]


Die Strahlen der Nachmittagssonne fielen in einen geschmackvoll angelegten blumenerfüllten Garten, und während sie auf der grünen Sammetdecke der Rasenstücke, dem reichen Flor der Beete spielten, zeigten sie beide in ihrer vollen entzückenden Frühlingspracht. Auf den stattlichen Mann jedoch, der über die breiten Kieswege dahinschritt, machte sichtlich die letztere keinen Eindruck, und er schien um ganz anderer Dinge willen, als um Sonnenschein und Blüthenflor, in den Garten gekommen zu sein, wenigstens verrieth sein suchender Blick, daß er nach einem besonderen Gegenstande spähete, und es zeigte sich bereits ein Ausdruck leichter Ungeduld auf seinem Gesicht, als ihm derselbe immer noch entging. Endlich fielen seine Augen auf eine Laube, die in einer entfernten Ecke des Gartens angebracht war, und als müsse er nun jedenfalls den Lohn seines Suchens finden, richtete er entschlossen seine Schritte dorthin.

Seine Erwartung hatte ihn nicht getäuscht; auf einer Ruhebank, unter einem dichten Laubdach von Clematis und wilden Rosen, saß ein junges Mädchen, das hier vielleicht für seine Träumereien, denen es ganz hingegeben zu sein schien, ein ungestörtes Asyl gesucht hatte. Dieselben stimmten aber offenbar weder zu ihren Jahren, noch zu der sonnigen Umgebung, denn es lag ein ernster, fast schwermüthiger Ausdruck auf ihren lieblichen Zügen. Der Herr, welcher an der Laube stehen geblieben war, hatte sie schon einige Augenblicke schweigend und forschend betrachtet, ehe sie ihn bemerkte; als sie dann aber aufblickte, sagte sie freundlich: „Ah, Sie sind es, Herr Doctor!“ und stand auf, um ihm zum Gruß die Hand zu bieten.

„Man sagte mir, daß ich Sie im Garten finden würde, Fräulein Eva,“ entgegnete er, „und da habe ich den Einbruch hier und in Ihre Gedanken gewagt – wollen Sie ihn mir vergeben?“

„Vergeben?“ lächelte sie. „Wissen Sie, daß ich in diesem Augenblick an Sie dachte, und daß ich – aber zuerst sagen Sie mir, ob Sie bei meiner Tante waren und wie Sie dieselbe gefunden haben!“

„Der Frau Räthin geht es gut, und ich werde sie in wenigen Tagen ganz aus meiner Cur entlassen können,“ erwiderte der Angeredete, indem er dabei das junge Mädchen nach ihrem Sitz zurückführte und selbst an ihrer Seite Platz nahm. Ihre Hand behielt er in der seinigen, und die Unbefangenheit, mit welcher sie ihm dieselbe ließ und, als er mit ihr sprach, zu ihm aufblickte, verrieth, daß sie ihm die Rechte eines alten Bekannten einräumte.

„Also Sie dachten an mich, Fräulein Eva?“ fuhr er fort – und es lag ein weicherer Ton in der Frage, als in jener Antwort – „aber dann waren Ihre Gedanken nicht freudiger Natur, denn Ihr Blick war traurig, als ich zu Ihnen trat!“

„O, es mischten sich viele Erinnerungen hinein,“ entgegnete sie. „Es ist heute der Geburtstag meines Vaters, an welchem er vor einem Jahre noch bei mir war. Wenige Monate später leiteten Sie mich an sein Krankenlager, nachdem die Nachricht von seiner Erkrankung mich von dem Besuch bei der Freundin heimgerufen hatte. Ich sah ihn in der Stunde zum letztenmal, denn in derselben Nacht noch starb er.“

„Ich weiß, ich weiß!“ sagte der Doctor, bemüht, seiner eigenen Bewegung Herr zu werden, als er auf die fallenden Thränen des jungen Mädchens sah. „Sein Tod kam auch mir überraschend – eine unerwartete Wiederholung des Schlaganfalls – in wenig Augenblicken war Alles vorüber!“

„Und mich weckte die Nachricht, daß ich keinen Vater mehr habe,“ entgegnete sie traurig.

„Armes Kind!“ flüsterte er und sah mit tiefer Theilnahme auf sie nieder.

„Ich hätte ihn nur einmal, o, nur noch ein einziges Mal sprechen mögen,“ fuhr sie fort. „wenn auch nur um eines schweren Räthsels willen, das mir seine letzten Worte auf die Seele gewälzt haben, und welches ich mir immer noch nicht zu lösen vermag.“

Er erwiderte nichts und sie bemerkte den Schatten von Unruhe nicht, der einen Moment über seine Züge flog. Plötzlich aber wandte sie ihm ihr volles Gesicht zu und sagte „Ich weiß nicht, wie es kommt, daß mein Herz in dieser Stunde so offen ist wie noch nie seit meines Vaters Tode; vielleicht, weil ich noch nie wieder so allein mit Ihnen geredet habe, der Sie meines Vaters Freund waren und – mir auch jenes Räthsel lösen könnten. Nein, nein, unterbrechen Sie mich nicht; ich muß Ihnen in dieser Stunde sagen, was mich so lange gequält hat, denn ich weiß, daß ich Ihnen Alles vertrauen darf.“

„Das dürfen Sie!“ sagte der Doctor warm.

„Nun denn: als ich meinen Vater wiedersah und weinend an seinem Bette kniete, sagte er mit seiner schwachen Stimme, indem er mir beide Hände aufs Haupt drückte: ‚Vergiß nie, dem Doctor


  1. Die weite Entfernung und Erkrankung der geehrten Verfasserin des angekündigten Romans: „Aus eigener Kraft“ verhinderte das rechtzeitige Eintreffen der Druck-Revisionen und zwingt uns die genannte Erzählung erst mit Nr. 3 beginnen zu lassen. Wir freuen uns dagegen durch diesen Zwischenfall die vielfach ausgesprochenen Wünsche der Monatsheft-Abnehmer nach geschlossenen Erzählungen für dieses Mal erfüllen zu können und zwar durch die reizend durchgeführte Novelle einer unsern Lesern wohlbekannten Feder.   D. Redaction.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_001.jpg&oldid=- (Version vom 21.12.2018)