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verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Gefühl für das Schöne und der Sprache Natürliche lebte. Denn nicht alle bedeutenden Schriftsteller eines Volkes haben gleichen Theil an der stets Neues erzeugenden und das Alte umbildenden Sprachkraft, die in den Nationen fortlebt, so lange sie selbst fortexistiren. In einzelnen Geistern wirkt diese Kraft, die keinem Menschen gänzlich mangelt, ungewöhnlich mächtig oder in ganz eigenthümlicher Weise. Beispiele solcher besonders Begabten sind im sechszehnten Jahrhundert Luther, dann Hans Sachs und vor allen der originelle Satiriker Fischart, dessen Behandlung der Sprache an das Wunder grenzt. Kein deutscher Schriftsteller kommt letzterem gleich an geistvoller Fruchtbarkeit und glücklicher Kühnheit der Wortbildung, an Witzen und Wortspielen, wenige nur besitzen eine solche fortreißende Kraft im Bau der Perioden, eine solche kunstvolle Ausarbeitung der Gedanken, eine solche Uebereinstimmung zwischen Inhalt und Form der Darstellung. In dem armen Jahrhundert des dreißigjährigen Krieges, wo die Bildkraft der Sprache gedrückt war wie die ganze Nation, waren in dieser Hinsicht der Verfasser des Simplicissimus, der kräftige Gryphius und die Schlesier Opitz und Logau von Bedeutung. Aus dem letztverflossenen Jahrhundert sind Lessing, Jean Paul, Schiller und in erster Reihe Goethe zu nennen. Diese sind denn auch am sorgfältigsten ausgezogen worden, namentlich Fischart, Luther und Goethe.

Einige Jahre konnten Zweifel obwalten, ob die Brüder Grimm die Zeit gewinnen und behalten würden, das in dieser Art vorbereitete Riesenwerk wirklich in Angriff zu nehmen. Sie waren nebenher noch mit andern Arbeiten beschäftigt, und wie viel auch durch die geschilderten Auszüge gethan war, so erschien das immer noch wenig gegen die Hauptarbeit, den gewaltigen Bau aus den herbeigeschafften und handgerecht geordneten Materialien aufzuführen, und so war es als ein Ereigniß in der deutschen Literatur anzusehen, als das Erscheinen der ersten Lieferung zeigte, daß wirklich an’s Werk gegangen worden.

Von jetzt an schritt der Bau rasch fort. 1854 war der erste Band, 1860 der zweite, 1862 der dritte vollendet. Darüber hinaus erschien bis zum Herbst des folgenden Jahres nur ein Heft. Inmitten der Beschäftigung mit dem Artikel „Frucht“ war Jakob Grimm durch den Tod von der Arbeit abgerufen worden, nachdem ihm einige Zeit vorher sein Bruder vorangegangen war, von dem im Wörterbuch der Buchstabe D behandelt ist. Alles Uebrige von dem bis dahin Veröffentlichten stammt von Jakob, und jedermann, der die etwa neunhundert Seiten starken, enggedruckten Bände größten Lexikonformats überblickt, wird von Staunen erfüllt werden über die rüstige Kraft des greisen Gelehrten, welcher in verhältnißmäßig kurzer Zeit solche Massen zu bewältigen im Stande war. Scheint doch schon die zur Herstellung erforderliche mechanische Arbeit des Schreibens die Kräfte eines jungen Mannes zu übersteigen.

Der Tod Grimm’s war für das Wörterbuch ein großer Verlust, aber kein völlig unersetzlicher. An die Stelle des Meisters traten in der Person des Gymnasiallehrers Hildebrand in Leipzig, der bisher schon als Corrector des Werkes sich in den Plan und die Methode desselben eingelebt hatte und als sachkundiger Rathgeber auch in anderer Hinsicht stiller Mitarbeiter gewesen war, und des Professors Weigand in Gießen sofort tüchtige Gesellen, um den Bau weiter zu fördern, und neuerdings hat sich zu diesen noch in Dr. Moritz Heyne in Halle ein dritter wohlgeschulter Gehülfe gesellt. Weigand baute da fort, wo Grimm die Kelle niedergelegt hatte, er arbeitete zunächst die Artikel des Buchstaben F aus. Die zweite Abtheilung bis Ende von H hat Heyne übernommen, den Schluß, I und J Professor Lucä in Marburg. Am fleißigsten hat Hildebrand, jetzt Professor an der Leipziger Universität, gearbeitet, der zunächst an den wichtigen Buchstaben K gegangen ist, welcher einen ganzen starken Band in Anspruch nehmen wird und jetzt bis zu dem Artikel „Krachen“ im Druck vorliegt. Das Werk ist damit ungefähr bis zur Hälfte vollendet. Von den übrigen Buchstaben werden nur M, S und W noch sehr viel Raum fordern, und es steht zu hoffen, daß der Schlußstein des gewaltigen Baues etwa um dieselbe Zeit eingesetzt werden wird, wenn wir ein anderes Riesenwerk unserer Zeit, das Kölner Münster, gekrönt sehen werden.

Wie bemerkt, hatte die Literatur keiner Nation bisher Aehnliches aufzuweisen. Heute sehen wir schon den wichtigen Einfluß, den das Unternehmen auf die Nachbarvölker geübt hat. Die Holländer folgten Grimm’s Vorgang mit einem „Wordenboek der Nederlandsche Taal“, welches von den Mitgliedern der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften M. de Vries und L. A. te Winkel in Leyden bearbeitet wird und dessen erste Lieferung 1864, dessen zehnte und bis jetzt letzte 1868 erschien. Man ist hier bis heute nur bis „Afleenen“ (Ablehnen) gelangt. In Frankreich wurde die Akademie zu einer Nachahmung des deutschen Werks durch ein „Dictionnaire historique de la langue française“ veranlaßt, dessen Erscheinen aber sehr langsam vor sich geht, indem 1858 die erste, erst 1865 die zweite, mit dem Artikel „Actuellement“ schließende Lieferung herauskam und das Ganze seitdem stockt. Rüstiger arbeitet der berühmte E. Littré, der Verfasser eines ähnlichen, ebenfalls nach dem Muster Grimm’s eingerichteten französischen Werkes, welches sich aber schon in zwei starken Bänden vollenden soll. Dasselbe ist mit der zwanzigsten Lieferung bereits bis zu dem Artikel „Perdre“ vorgerückt. Endlich wird auch von den Engländern an ein großes, die Geschichte ihrer Sprache darstellendes Wörterbuch gedacht, und man ist mit den Vorbereitungen zu demselben beschäftigt.

Kehren wir zu unserem deutschen Nationalwerke zurück, so ist der Umfang desselben auf das Hochdeutsche beschränkt worden, welches sich durch das sogenannte Gesetz der doppelten Lautverschiebung vom Niederdeutschen ebenso scheidet, wie die gesammte deutsche Sprache durch die einfache Lautverschiebung von den übrigen stammverwandten Sprachen getrennt ist. Ein Wörterbuch des Niederdeutschen muß also ein eigenes Unternehmen werden. Dagegen hat sich der Umfang des Grimm’schen Werkes der Zeit nach sehr weit ausgedehnt, indem in vielen Artikeln auf das Mittelhochdeutsche und selbst auf das Althochdeutsche und Gothische zurückgegangen wurde, da nur so die Entwickelung der Sprache in ihrer Gesammtheit anschaulich zu machen war. Das Wörterbuch umfaßt ferner nicht blos die Schriftsprache der Deutschen, sondern nimmt vielfach auch auf die verschiedenen Mundarten, in welche das Hochdeutsche zerfällt, Rücksicht und steigt bis in die Kreise der Jäger, Vogelsteller und Hirten herab, um den Wörterschatz, mit dem es sich beschäftigt, womöglich ganz darzustellen. Ueberblicken wir eine der Lieferungen, so staunen wir, auch wenn wir gut im Deutschen zu Hause zu sein meinen, wie viele Wörter uns vollkommen fremd sind, und sehr lebhaft tritt uns die Wahrheit vor die Seele, wie viel reicher die Sprache einer Nation ist als die eines einzelnen Angehörigen derselben.

Nach dem Plane des Wörterbuchs scheint es, daß man anfangs die Mundarten, die neben der vornehmen Schriftsprache ein stilles, bescheidenes Naturleben führen, nur in unabweislichen Fällen berücksichtigen wollte. Bald aber wird man innegeworden sein, daß die Art, „wie das Volk spricht“, innig mit den Lebenswurzeln der Sprache verwachsen ist, in der wir schreiben, und daß mindestens die Stammwörter und die wichtigsten Abschattirungen ihrer Bedeutungen, die in der Alltagsrede der verschiedenen Landschaften enthalten sind, aufzunehmen waren. So giebt das Wörterbuch eine reiche Fülle von Stoff, aber unermeßlich ist die Menge von Wortbildungen und Wortverwendungen im Deutschen, und alle diese Strahlenbrechungen der Sonne des deutschen Lebens aufzufangen, jede Vorstellung, die sich einmal in ein Wort verwandelt hat, zu verzeichnen, ist ebenso unmöglich, wie das Zählen der Blätter eines Waldes.

Unbedingte Vollständigkeit war also bei allem Eifer und aller Sorgfalt nicht zu erreichen. Für die vergangenen Zeiten nicht; denn sehr viele Nebenbedeutungen wohlbekannter Wörter sind nie in die Schriftsprache gelangt, viele liegen noch in alten Flugschriften verborgen, in denen oft Ausdrücke sehr origineller Art vorkommen, die aber ungelesen bleiben mußten, wenn man das Erscheinen des Werkes nicht über Gebühr verzögern wollte. Und ebenso für die Gegenwart nicht. Auch hier wird der Sprachstoff stets unendlich viel größer sein als die Masse desselben, die in Büchern zu verzeichnen versucht wird; denn täglich wird Neues geboren, und nie ist die Schöpfung der Sprache abgeschlossen. Am meisten bemerkt dies, wer viel mit dem Volke verkehrt. Er stößt in jedem Dialekt auf unerschöpfliche Quellen für die Sprachforschung, auf merkwürdige, oft uralte Stammwörter, charakteristische Anwendungen und neue Zusammensetzungen. Er begegnet in der Sprache der verschiedenen Kreise praktischer Thätigkeit zahlreichen originellen Ausdrücken und eigenthümlichen Bedeutungen von sonst bekannten Wörtern. Er entdeckt endlich – und das ist das Anziehendste –

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