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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

nach Deseret, für den Winter hier Halt gemacht hatte. Die meisten der übrigen Theilnehmer an der Versammlung – es waren neun Männer und zwei Frauen – schienen in dem gleichen Falle zu sein. Mehrere derselben waren Schotten, andere verriethen durch ihre Aussprache des Englischen, daß sie in Yorkshire reden gelernt. Unter den ersteren befand sich mein Stuhlnachbar, ein recht gesprächiger und zutraulicher junger Mann aus Glasgow, der damals eine sehr einträgliche Stelle in einem Bankgeschäfte Cincinnatis einnahm, zum nächsten Frühjahr aber demungeachtet der Aufforderung der Apostel zur „Gathering“ nachzukommen, d. h. nach der heiligen Stadt in den Felsengebirgen aufzubrechen gedachte. Die Uebrigen waren Handwerker und Farmer. Unter den anwesenden Amerikanern war einer, der das Unglück gehabt, bei dem einen von den vielen Angriffen der „Heiden“ auf die „Heiligen“, der im Stil der mormonischen Kirchengeschichte die Missouri-Verfolgung heißt, in hinterwäldlerischer Manier gemaßregelt zu werden. Man hatte ihn entkleidet, mit Theer bestrichen und dann durch Wälzen in Bettfedern in einen Vogel verwandelt, und davon schien ihm etwas für immer geblieben zu sein.

Es war ein kleines, spindeldürres Männlein, dessen spitze Nase wie ein Schnabel aus dem Reste einer hohen Halsbinde mit ungeheuren Vatermördern heraus sah. Der Leib steckte in einem Frack mit Schwalbenschwanz-Schößen. Den Kopf bedeckte ein fuchsiger, verbogener Hut, in Betreff dessen die Vermuthung erlaubt war, er habe die Verfolgung miterlebt und sei seinem Träger dabei angetrieben worden. Flink und ruhelos, wie ein Vogel, der im Bauer von Stange zu Stange hüpft, war der kleine Mann bald bei dem Einen, bald bei dem Andern, und beim Heimgehen erzählte er uns sein damaliges Mißgeschick in so pudelnärrischer Weise, daß ich in der Folge durch die Erinnerung an ihn ungemein heiter gestimmt wurde, namentlich wenn mir dabei einfiel, daß dieses schnurrige Ding mir von Merryweather mit vieler Salbung als „einer von unseren Märtyrern“ vorgestellt worden war.

Der Gottesdienst wurde vom Doctor mit einem Gebete eröffnet. Dann sang man ein Loblied auf Joseph Smith, hierauf wieder Gebet, wobei die Stelle, der große Jehova wolle denen, welche die Wahrheit suchen, die Augen öffnen, vermuthlich dem besuchenden Heiden galt, und hierauf nach lustiger Weise ein langes Reiselied, welches mit den folgenden Versen anhob:

„Kommt, geht mit mir, kommt, geht mit mir,
Ihr Heil’gen Gottes, weg von hier!
Die Zeit ist da, wir müssen fort
In fernes Land nach Gottes Wort.
Nicht länger laßt uns zögern. Noth
Und Weh und Graun die Welt bedroht.
Das Heidenvolk den Priester haßt,
Kein Heim für uns und keine Rast
In diesen Staaten. Auf denn, kommt,
Im Westen nur liegt, was uns frommt.“

Nach dem Liede gab’s einen etwa drei Viertelstunden langen Sermon im reinsten Cockney-Englisch, gehalten von einem rothhaarigen Jüngling, der geradenwegs aus den Werkstätten der großen Schneiderfirma Moses und Sohn in London kam. Den Haupt- und Glanzpunkt aber der ganzen Feier bildete eine Ansprache des Märtyrers von Missouri. Derselbe sprang nach seiner Vogelnatur fortwährend von der Stange ab und bald in’s Eine, bald in’s Andere. In dem einen Augenblicke knabberte er an einem mystischen Thema herum, im nächsten pickte er in die letzten Vorkommnisse der Alltagswelt hinein, wieder im nächsten saß er unter altindianischen Propheten, dann, nachdem er mit Vogelgeberde sich geduckt und aus einem Wasserglas auf dem Fensterbrete genippt, nahm er seinen Flug wieder hinauf in himmlische Regionen, und jetzt begab sich ein Wunder. Der Gute hatte sich in solche Aufregung hineingearbeitet, seine Inbrunst sich bis zu solchem Brande gesteigert, daß, wie erst die Sätze, so jetzt auch die einzelnen Worte seiner Rede aus Rand und Band gingen und sich mit allerlei unarticulirten Lauten mischten. Zuerst klang’s, als ob ein Träumender spräche, dann war’s completer Unsinn.

„Omi, ami, ami, la, la, la, si, si, si, Jehova, la, la, la, Adam ondi Aman, Lihei, Niphei, Moroni, la, la, la, si, si, si, sississi, la, la, la“ – so lallte, so zwitscherte er, mit verdrehten Augen nach der Wand zurückgebogen und mit weitgeöffnetem Munde. „Glory, lalala, Glory, lalala, Halleluja, Hosiannah, lalalalla“ etc., bis das Lalalalla endlich in dumpfes Gurgeln und Glucken überging. Zwei Minuten etwa mochte die seltsame Production gewährt haben, als ihr ein gewaltiger Hustenanfall ein prosaisches Ende machte. Erschöpft setzte er sich nieder.

Mit peinlichem Erstaunen hatte ich der Scene beigewohnt und jeden Augenblick erwartet, unser Märtyrer, der wie ein Vogel zwitscherte, werde, verrückt geworden, auch als Vogel zu hüpfen und zu fliegen versuchen. Die Mormonen aber, an solche Dinge gewöhnt, waren offenbar von dieser Leistung stark erbaut. Sie fanden Sinn darin. Adam ondi Aman hieß der Ort im Paradiese, wo Adam seine Kinder gesegnet hatte. Lihei, Niphei, Moroni waren Propheten, die in der Zeit, wo Gott sich den Indianern offenbarte, eine Rolle spielten, und die dem Verzückten jetzt vermuthlich erschienen waren. Glory (Heil, Ruhm, Herrlichkeit) hatte er gerufen, weil er wahrscheinlich den Himmel offen sah. Mit einem Worte: es war eine Probe des „Redens in Zungen“, dessen sich die Heiligen des Jüngsten Tages wie aller übrigen Gnadengaben der alten Apostelzeit rühmen, und aus dessen Vorkommen unter ihnen sie einen der Beweise für die Echtheit und Wahrhaftigkeit des von Joseph Smith verkündigten neuen Evangeliums herleiten.

Ob die Probe selbst echt war, lasse ich dahingestellt, möchte aber daran zweifeln, da der Märtyrer bald nachher beim Nachhausegehen eine nichts weniger als besonders heilige Stimmung entwickelte. Wie es aber mit der Echtheit und Wahrhaftigkeit der Lehre Smith’s steht, wollen wir in einem späteren Capitel sehen. Die Leser werden sich in ihm einen sehr wunderlichen Heiligen vorstellen. Ich denke aber, er soll ihre Erwartungen weit überbieten.




Ein Lied aus alter Zeit.

Von Albert Traeger.

In regungslosem Sinnen
Tief träumt die alte Frau,
Das Auge blickt nach innen,
Beglänzt von mildem Thau,

5
Was ihr die stille Stunde

So wunderbar geweiht,
Es ist von jungem Munde
Ein Lied aus alter Zeit.

Wie hat sie’s einst gesungen,

10
Wie hat sie’s einst gehört,

Es hat ihr Herz bezwungen,
Das lang’ sich stolz empört,
Und nun will es erneuen
Versunk’ne Tage ihr,

15
Das alte Lied vom treuen,

Vom tapfern Cavalier.

Der Tapfre ist gefallen,
Im Wind das Lied verweht,
Die Treue nur von Allen

20
Einsam auf Trümmern steht,

Da faßt des Liedes Mahnen
Ihr mächtig das Gemüth,
Ein todessel’ges Ahnen
In seinen Tönen blüht.

25
Die Züge sich verklären,

Das Herz ihr höher klopft,
In hellen Freudezähren
Ihr Sehnen niedertropft –
Doch die das Lied gesungen,

30
Theilt nicht der Alten Lust,

Leidvoll fühlt sich durchdrungen
Der Enkeltochter Brust.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_027.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)