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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Kinder zu; nicht wenige raffte Pestalozzi selbst aus ihrem Elend von der Straße auf. Bald hatte er fünfzig Zöglinge, welche im Sommer mit Feldarbeit, im Winter mit Spinnen und anderer Handarbeit beschäftigt, gleichzeitig unterrichtet, besonders durch Sprachübungen und Kopfrechnen in ihrem Denkvermögen geübt und aufgehellt werden sollten.

Aber trotz der edelsten, rührendsten, aufopferndsten Liebe, die ihn beseelte, trotz der zum Theil neuen und richtigen Grundsätze, die er bei dem Unterricht und der Erziehung jener Kinder zur Anwendung brachte, scheiterte das Unternehmen durch den Mangel praktischen Sinnes von Seiten seines Begründers, sowie an unzähligen Mißgriffen und Schwierigkeiten, die zu vermeiden oder zu überwinden es Pestalozzi an Einsicht und Geschick fehlte. Im Jahre 1780 löste sich, nach fünfjährigem Bestand, die Armenanstalt auf dem Neuenhofe gänzlich auf, und erst später führte der umsichtige und praktische E. v. Fellenberg in seiner „Wehrli-Anstalt“ zu Hofwyl unweit Bern Dasjenige mit Glück und Erfolg aus, was Pestalozzi angeregt und versucht, aber nicht dauernd zu begründen vermocht hatte.

Dieser, dessen hochherzige Gattin beinahe ihr ganzes Vermögen für ihn verpfändet hatte, lebte nun in Armuth und Dürftigkeit noch achtzehn Jahre auf dem Neuenhof. Aber gerade in diese Zeit, in welcher sein edler Freund Iselin den von der Welt Verhöhnten und Mißhandelten vor Verzweiflung rettete, fallen Pestalozzi’s erste schriftstellerische Arbeiten, in welche er die Gefühle seines Herzens, wie den reichen Gewinn seiner Kämpfe und Erfahrungen niederlegte und welche für den großen Zweck seines Lebens die herrlichsten Früchte trugen.

Der Mann, der seit Jahren kaum ein Buch in die Hand bekommen und kaum eine Zeile ohne Schreibfehler zu Stande zu bringen vermochte, wobei er einst, von Lavater darauf aufmerksam gemacht, ausgerufen haben soll: „Das ist ein Puder auf den Kopf; der Kopf ist die Hauptsache; Puder kann man in jedem Kramladen kaufen,“ begann in seiner Hülfsbedürftigkeit, von einem richtigen Instinct geleitet, seine schriftstellerische Thätigkeit mit den „Abendstunden eines Einsiedlers“, einer kurzen, aber inhaltsvollen Reihenfolge großer Anschauungen und Gedanken, die zuerst in Iselin’s „Ephemeriden“ erschien. Hierauf folgte das Volksbuch „Lienhard und Gertrud“, eine Schrift, die Pestalozzi’s Namen fast durch ganz Europa trug und in weiten Kreisen wirkte.

Er wollte durch diese einfache schweizerische Dorfgeschichte, in der er sein erstes Wort an die Armen und Verlassenen im Volke, vorzugsweise an die Mütter des Landes, als die von Gott selbst bestellten ersten Erzieherinnen der Jugend, richtete, eine von der wahren Lage des Volkes und von seinen natürlichen Verhältnissen und Bedürfnissen ausgehende bessere Volksbildung begründen. Keine seiner zahlreichen spätern Schriften kann sich sowohl nach Inhalt und Darstellung wie hinsichtlich des Erfolges mit dem Volksbuche „Lienhard und Gertrud“ messen.

Während dessen hatte sich Pestalozzi’s äußere Lage immer mehr verschlimmert. Der Besitz seines Landgutes kostete ihm jährlich große Summen und trug ihm so viel wie nichts ein. Da brach die französische Revolution los. Ihre Wirkungen ergriffen bald auch sein Vaterland. Die Revolutionsheere drangen in dasselbe ein, die Schweiz ward in eine untheilbare Republik verschmolzen, an deren Spitze fünf Directoren standen; unter ihnen auch Le Grand, ein Freund Pestalozzi’s. Durch seinen und den Einfluß der edlen Minister Stapfer und Renger wurden Pestalozzi in der neuen Republik einträgliche Stellen angeboten. Er schlug sie in richtiger Erkenntniß seines Mangels an Geschäftsbefähigung und praktischer Tüchtigkeit aus und wiederholte den Freunden sein schon früher gesprochenes Wort: „Ich will Schulmeister werden!“

Durch den Widerstand gereizt, welchen die vier Urcantone der Schweiz der neuen helvetischen Regierung entgegensetzten, sandte Frankreich seine Revolutionsheere in die verborgenen Alpenthäler, wo sie sengten, raubten, mordeten und dabei auch im September 1798 Stans, den Hauptort Unterwaldens, verbrannten. Ein schreckliches Elend war dessen Folge. Schaaren vater- und mutterloser Kinder irrten verlassen und ohne Obdach umher, und die obengenannten drei Männer an der Spitze der Regierung, Le Grand, Stapfer und Renger, sandten mit richtigem Blick die zwei großen Heinriche der Schweiz, Heinrich Zschokke und Heinrich Pestalozzi, jenen als Regierungscommissar in die Urcantone, diesen als Schulmeister in das unglückliche Stans.

Die Regierung hatte Pestalozzi für den Zweck des zu errichtenden Waisenhauses das Gebäude des Klosters der Ursulinerinnen angewiesen, das aber weder ausgebaut, noch zur Aufnahme einer ansehnlichen Zahl von Kindern eingerichtet war. Die armen Waisen drängten sich in beträchtlicher Anzahl von allen Seiten herzu, ehe noch Zimmer, Küche, Betten in Ordnung waren. In einem kleinen Gemach, durch dessen zertrümmerte Fenster das rauhe Herbstwetter schlug, mußte unser Held, nur von einer Haushälterin begleitet, sein Werk beginnen.

Doch wie unbedeutend war dieser regellose Zustand gegen die grenzenlose Verwilderung der Kinder selbst, die mit Ungeziefer beladen, wie abgezehrte Gerippe, gelb, grinsend, einige voll kühner Frechheit, des Bettelns, Heuchelns, Lügens und aller Falschheit gewöhnt, einige vom Elend niedergedrückt, voll träger Unthätigkeit, sich täglich mehrten und von denen kaum eins das A-B-C kannte! Und – ehe das Frühjahr kam, kannte man diese Kinder nicht wieder. Sie waren wirklich zu Menschen, zu frohen, glücklichen, dankbaren Menschen umgewandelt worden durch die Kraft und Ausdauer, die fast übermenschliche Aufopferung einer Liebe, die sich selbst über ihrem Werke ganz vergaß und bei Tag und Nacht mit Vater- und Muttertreue über den Kindern waltete.

Der Grundgedanke, der Pestalozzi bei seinem „Pulsgreifen der Kunst, die er suchte“, leitete, war die Uebertragung des vollen Segens der häuslichen Erziehung auf die öffentliche, des Segens der Wohnstube auf die Schulstube. Erhebend und rührend ist, was er über sein Verhältniß zu seinen Kindern an Geßner schreibt: „Ich war vom Morgen bis zum Abend allein in ihrer Mitte. Alles, was ihnen an Leib und Seele Gutes geschah, ging durch meine Hand. Jede Hülfe, jede Handbietung in der Noth, jede Lehre, die sie erhielten, ging unmittelbar von mir aus. Meine Hand lag in ihrer Hand, mein Auge ruhte auf ihrem Auge, meine Thränen flossen mit den ihrigen und mein Lächeln begleitete das ihrige. Sie waren außer der Welt, sie waren außer Stans, sie waren bei mir, und ich war bei ihnen. Ihre Suppe war die meinige, ihr Trank der meinige. Ich hatte nichts, ich hatte keine Haushaltung, keine Freunde, keine Dienste um mich her, ich hatte nur sie. Waren sie gesund, ich stand in ihrer Mitte, waren sie krank, ich war an ihrer Seite. Ich schlief in ihrer Mitte. Ich war am Abend der Letzte, der in’s Bett ging, und am Morgen der Erste, der aufstand. Ich betete und lehrte noch im Bett mit ihnen, bis sie einschliefen. Alle Augenblicke mit Gefahren einer doppelten Ansteckung umgeben, besiegte ich die beinahe unbesiegbare Unreinlichkeit ihrer Kleider und ihrer Leiber.“

Als die von den Oesterreichern geschlagenen und zurückgedrängten Franzosen die Klostergebäude für ihre zahlreichen Verwundeten als Militärhospital in Beschlag genommen hatten, mußte Pestalozzi 1799 alle seine armen lieben Pflegebefohlenen entlassen, nachdem er sie mit Geld, Wäsche und Kleidern versorgt hatte. Herzzerreißend war der Abschied der Kinder von dem geliebten Pflegevater. Sie hingen sich an seine Arme, küßten unter Thränen seine Hände und konnten nur mit Mühe bewogen werden, in ihre verschiedenen Heimathen zurückzukehren. Er selbst ging erschöpft und gebeugt in den Badeort Gurnigel in den Berner Alpen, um seine angegriffene Gesundheit wieder herzustellen, und von dort nach Burgdorf, wo er anfangs unter großen Entbehrungen in einer Winkelschule den in Stans fallen gelassenen Faden seines Unterrichtes wieder aufnahm, wobei er, alle Theorie und fremde Erfahrung gering achtend und von der Anschauung als Grundlage ausgehend, bemüht war, die Anfänge des Unterrichtes zu höchst möglichster Einfachheit und in solche naturgemäße Form zu bringen, welche die Kinder vom ersten Schritte allmählich sicher zu den weiteren führen mußte.

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 551. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_551.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)