Seite:Die Gartenlaube (1867) 806.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

sich daran genügen, daß ich als ein ehrlicher Mann Ihnen bereitwillig und offen aus dem Wege trete.“

Ich hatte diesen Brief kaum gelesen, Julie, so sprang ich auf und rief: Halt! wie wenn ich, statt im Eisenbahnwagen, in einer Kutsche säße. Die ganze fahrende Gesellschaft sah mich wie einen Tollgewordenen an, lächelte, zischelte; mir war Alles gleich, ich hatte genug zu thun, mir klar zu machen, daß ich warten und aushalten müsse, bis der Dampfwagen so gefällig sein werde, still zu stehen. Endlich hielten wir, ich sprang hinaus und wollte sogleich zurückfahren. Nun besann ich mich erst, daß vor dem andern Morgen kein Zug mehr dahin abgehe. Und so stand ich nun da und mußte, wohl oder übel, mit meiner grenzenlosen Erregung, meiner Erwartung, meinem angstvollen Glücksgefühl in ein Gasthaus wandern und die lange Nacht wie angekettet verwachen. Und da sitz’ ich und schreibe. Ja, meine Julie, ich habe sie lieb über Alles, und mein muß sie werden! Nun ist es heraus aus dieser närrischen, verhangenen Brust, und klar steht’s mir vor Augen. Sie soll nicht unglücklich sein! Sie soll erfahren, daß ich ein Mensch von ernsten, treuen, ganzen Gefühlen bin, daß ich sie unsinnig liebe. Ja, nun weiß ich es, und die ganze Welt soll es wissen. Auf dieser Hand will ich sie tragen, ihr Reich soll das meine sein, ihre Blumen will ich begießen, ihre Lieder mit ihr singen, ihr Lachen mitlachen, ihre Thränen wegflüstern – und wo wir sind, ist die Welt! Was gilt mir Rom? Was soll ich jenseits der Berge? Ein Mensch, ein Mensch, und alle Ruinen, alle Felsenstädte, alle duftigen Fernen sind ein Schattenspiel, das vor dem Strahl eines beseelten Blicks verschwindet! –

Ach, und dieser Walter, dieser Unglückliche – hat er Dich nicht gerührt? Guter, edler Mensch, laß mich Dich in Gedanken drei Mal umarmen! Wär’ er ein Römer, Julie, er hätte seinen Nebenbuhler mit einem untadelhaften Stiletstich bei Seite geräumt; er ist ein Deutscher und zerdrückt verschämt seine Thränen und sagt mir: nimm sie hin! Wie vergelt’ ich ihm das? Was kann ich thun, als daß ich ihm im stillen Herzen meine Liebe erkläre und mir heilig gelobe, das Mädchen, das er lieb hat, unsäglich glücklich zu machen?

O wär’ es erst Tag und läg’ ich an ihrem Fensterplatz zu ihren Füßen!




Achter Brief.

Gute Nacht! Julie, ich habe mein Schicksal versucht, und nun ist es aus. Für immer aus und vorbei! Lebe wohl, ich bin schon unterwegs; aus Rom schreib’ ich Dir mehr, jetzt versagt mir Alles. Meine blinde Hoffnung hatte mich betrogen. Es sollte nicht sein, man war ohne Zweifel zu gut für mich – o, ohne Zweifel! – Ich weiß nicht, was ich schreibe; lebe wohl. Mir ist, als ob die Erde unter mir wankte und bebte. Ein kleiner Zusammensturz aller Dinge, das wär’ es jetzt, was mir wohlthäte! – Bleib’ Du mir treu. Gute Nacht.

(Schluß folgt.)


Der letzte Gast.
Von P. Kummer.


Die ersten Schneeflocken stöberten vom grauen Novemberhimmel und drinnen dampfte die Schüssel, um die meine Kinder saßen wie die Oelzweige. Ich sprach von der Wehmuth und Freude, mit welcher der erste Schnee das Gemüth berühre, aber der Jubel überwiege, denn hinter diesem flockigen Vorhange, der vor die Sommerfreuden falle, thuen sich das Christfest und die Schlittenbahn, die duftende Hyacinthe am Fenster und alle die unaussprechliche Traulichkeit der Winterszeit auf. Ich protestirte gegen die Worte Walter’s von der Vogelweide, der blos ein Dichter sei, wo er spreche: „Könnt’ ich verschlafen im Winter die Zeit, wach’ ich derweilen, so ist es mir leid!“ So ich, als meine brave Gattin mir freudig eifrig einfiel: „Aber seht nur, mit dem ersten Schnee zugleich der letzte Gast!“ Eine letzte Fliege saß, wie ein Spatz am Fenstersims, am Rande der Schüssel und streckte den Rüssel und leckte, als ob sie Fug und Recht und Sitz und Stimme da habe, wo die Familie sich versammelt, – die letzte von den Myriaden ihres Geschlechts, die längst verschwunden waren. Und wie der Onkel Tristram Shandy’s – in des berühmten englischen Humoristen Lorenz Sterne gleichnamigem Roman – als man in seiner Gegenwart eine Fliege tödten wollte, sagte: „Thut ihr nichts, der Schöpfer hat sie auch geschaffen,“ und sie ergriff und zum Fenster hinausfliegen ließ, so nahm ich den letzten Gast in Schutz und hieß ihn achten und ehren. Er hat sich nachmals am warmen Ofen gütlich gethan und ist da noch manchmal gesehen.

Ich liebe sie, die ehrliche Stubenfliege, nicht nur als Mensch, dem sie ein Mitgeschöpf ist, sondern auch als wissenschaftlicher Dipterensammler, der das Leben und die Eigenschaften der Dipteren (Zweiflügler) fleißig beobachtet hat und um deswillen die Stubenfliege vor unzähligen anderen ihres Gleichen zu berühmen weiß. Ich liebe sie, die ein Weltbürger ist und keinem Orte eines Erdtheiles fehlt, wo irgend nur Menschen sich angesiedelt haben. Wohin ich in und außerhalb Deutschlands nur je gekommen bin, habe ich sie gefunden und bin an die Heimath erinnert worden. Sie proclamirt die Freizügigkeit als ein göttliches Recht. Und so findet sie sich in den Colonistenhäusern Australiens, in den Missionsstuben am Cap der guten Hoffnung, in den Werkstätten der Chinesen und in den Stuben und Ställen der Pflanzer Amerika’s. Sie achtet auch nicht Hoch oder Niedrig: in den Sälen der Fürsten findet sie sich ein und fühlt sich nicht wohler, als in der dumpfig niedrigen Wohnung des Tagelöhners; und sie fragt nicht nach dem Ansehen der Person: die wackere Magd im Gehöfte umschwebt sie in gleicher Zuthulichkeit, wie die sammetne Dame inmitten ihrer elegantesten Soirée, und der Arbeit des Gelehrten schaut sie mit derselben Ausdauer zu, wie dem ehrsamen Handwerker bei seiner Mühe. Das Alles ohne Scheu. Du kannst dich ihr auf Spannenweite nahen, und sie fliegt nicht auf, wie andere Fliegenarten, die Bombyliden, Sylphiden etc., die, auf Blumen saugend, schon auf mehrere Schritte die leiseste Nähe des Menschen fliehen; du kannst sie wegjagen, und sie kommt wieder; du kannst einen ganzen Schwarm, der auf schwarzem Pelzwerke lagert, aufscheuchen, und in wenigen Minuten ist dies von Neuem furchtlos von ihm in Besitz genommen. Sie sind nicht klug, wie die Schlangen, denn sie entziehen sich der Gefahr deiner Hand und deiner ledernen Waffe nicht, selbst nachdem sie an gefallenen Cameraden deren Gefährlichkeit kennen gelernt, sondern sie sind nur ohne Arg, wie die Tauben. Sie vertrauen dem Menschen, in dessen wohnlichen Schutz sie sich begeben haben und mit dem sie seit Jahrtausenden zusammengelebt, und sind durch ihr Benehmen ein Loblied auf die menschliche Nachsicht und Güte.

Du meinst: Wären sie blos Gäste! ich ehre den Gast, wofern er das Gastrecht nicht verletzt. Aber geradezu unleidlich ist das Betragen der Stubenfliege, drum mag ich sie nicht. Ihr Sündenregister? Nichts leichter zu geben als das! Sie beschmutzen die goldenen Bilderrahmen, die Spiegel, sind unreinlich, wo wir Reinlichkeit lieben. Sie stechen oft auf schmerzliche Weise. Sie legen ihre Eier in das Fleisch und andere Speisen. Sie summen auf das Störendste, wenn schon die Hitze uns plagt. Sie hindern selbst den kürzesten Mittagsschlaf, – ich mag sie nicht, mich ärgert nicht nur zuweilen, sondern stets die Fliege an der Wand, in der Luft und wo sie nur sein mag.

Gemach, mein Bester, rechne der ehrlichen Stubenfliege – musca domestica – nicht zu, was zumeist Andere verschulden. Vielleicht kennst du sie gar nicht; eine einfache Lupe genügt, sie von den nächstverwandten Fliegen zu unterscheiden. Der Rüssel ist nur wenig vorstehend, abwärts gerichtet; die vierte Flügellängsader beugt nicht bogenförmig, sondern winkelig zur dritten Längsader auf; die Schienen der mittleren Beine sind auf der Innenseite ohne Borsten; die Stirn des Männchens ist nie so schmal, daß sich die Augen berührten. Nun kann sie deiner Kenntniß nicht entgehen; die Vergehen, die du ihr schuld giebst, sind groß, aber du wirst finden, sie treffen sie kaum oder gar nicht. Gut,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_806.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)