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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Er sah die Wärterin über sich gebeugt und erkannte sie.

„Franzi,“ stammelte er mühsam, „Du bist bei mir? … So ist’s keine Phantasie gewesen, daß ich Dich um mich geseh’n hab’ im Fieber? Du bist meine Krankenwärterin?“

„Ja, Herr,“ erwiderte sie sanft, „sei’n Sie mir nit bös deswegen und erzürnen Sie Ihnen nit! Ich hab’ Unrecht gethan, wie ich Ihnen das letzte Mal begegnet bin – dort auf dem Kirchhof, am Grab meiner Mutter … ich hab’ harte Wort’ ausgesprochen gegen Sie und hab’ seitdem keine Ruh’ mehr in mir gehabt und kein’ Frieden. Ich wollt’ gleich zu Ihnen, wollt’ Sie aufsuchen und mein Unrecht eingesteh’n, aber ich hab’s nit gewagt, ich hab’ gefürcht’t, Sie könnten glauben, daß es nur das Interesse oder eine andere Absicht sein könnt’, was mich zu Ihnen führt… Wie ich aber gehört hab’, daß Sie so krank geworden sind und so einsam und verlassen da liegen, da hab’ ich mich nimmer halten lassen und hab’ mir gedenkt, Sie werden mich wohl nit so leicht erkennen, bei Ihrem Zustand und in dem Gewand da! So hab’ ich wenigstens meine Schuldigkeit gethan, wie’s eine Andere gethan hätt’, wenn sie noch am Leben wär’! Was geschehen ist zwischen ihr und Ihnen … ich will’s unserm Herrgott überlassen, will nit seiner Hand vorgreifen und seiner ewigen Barmherzigkeit! Ich hab’s erfahren, an mir selber, was es um die Menschen ist und um ihr Urtheil … ich will’s dem Himmel überlassen und nit richten anstatt seiner… Bleiben Sie ruhig, Herr … denken Sie nit, daß ich es bin, die Sie bedient, denken Sie, es ist eine ganz unbekannte wildfremde Person. … Ich bin ja schon zufrieden, daß Sie noch einmal zu sich ’kommen sind und haben mich erkannt und daß ich bitten und sagen kann, so recht von Herzensgrund, daß Sie mir verzeihen sollen…“

„Verzeihen?“ erwiderte der Alte, über dessen Antlitz sich immer mehr ein lächelnder Friede breitete, wie er in den harten Zügen wohl nimmer gehaust. „Ich Dir? Du bist es ja, die ich um Verzeihung bitten muß … für Dich und Deine Mutter! Ich hab’ schlecht gethan an allen Beiden … ich hab’ Dir schweres Unrecht zugefügt; ich hab’ Dich verleumdet, Dich … mein eigenes Fleisch und Blut … mein gutes, braves Kind, das so viel hat ausstehen müssen in seiner Unschuld… Verzeih’ mir, Franzi,“ fuhr er mit erlöschender Stimme fort, „verzeih’ mir für Deine Mutter und für Dich … wenn Du es thust, dann kann ich erst ruhig sterben … denn dann weiß ich, daß mir auch unser Herrgott verzeiht, wenn ich hinüber muß in die Ewig …“

Schwäche überwältigte und hinderte ihn, zu vollenden. Das Haupt sank von der versuchten Erhebung schwer zurück; der Athem versiechte und die Augen schlossen sich, dennoch war etwas über sein ganzes Wesen ergossen, als ob die Erregung seine Kräfte und Geister in neue Spannkraft versetzte … die Athemzüge wurden ruhiger und gleichmäßiger und gingen in jene eines tiefen Schlummers über.

Die Schale des Lebens schnellte den Tod empor und sank, sie sank von dem einzigen Tropfen reiner Freude, den dieser Augenblick in sie geträufelt.

Franzi war betend in die Kniee gesunken, ihre Lippen sprachen das Wort der Vergebung nicht aus, aber desto lauter rief es ihr Herz. Sie beugte das Haupt und neigte das Antlitz auf das Bett, um ihren Scheitel wehte es wie der Fittig eines Engels, der seine entsühnende Palme auf sie niedersenkte.


7.

Im Waisenhause war ein fröhlicher Abend angebrochen: in einer großen Stube, die außerhalb des eigentlichen Hausverschlusses lag, war die Christbescheerung eingerichtet, damit auch die wenigen Verwandten und Wohlthäter der Kinder Zutritt haben konnten, ohne die klösterlich strenge Ordnung der Anstalt zu verletzen. In der Mitte auf kleiner Erhöhung stand eine stattliche Tanne, von unzähligen Wachskerzen schimmernd und reichlich behangen mit Allem, was Auge, Hand und Mund der begehrlichen und so leicht begnügten Kinderwelt reizen kann und was geeignet war, in der Sorge für ihre kleinen Freuden und Bedürfnisse den Gedanken und das schmerzliche Gefühl von ihnen fern zu halten, daß sie diejenigen entbehrten, denen diese Sorge die liebste Pflicht sein würde und das schönste Glück, daß es nicht ein Vaterauge war und nicht Mutterhand, die den Baum geschmückt und beleuchtet. In argloser, ahnungsfreier Fröhlichkeit drängte und jubelte die kleine Schaar um die kostbare Tanne; wer sie so glücklich sah, mochte die grauen Jacken vergessen, in denen sie warm und behäbig steckten, die aber doch unablässig daran mahnten, mit wie vielen Thränen der noch so kurze Lebensweg eines jeden dieser armen Kinder begossen sein mochte, bis die sichere Pforte erbarmender Liebe sich schützend hinter ihm geschlossen. Einige Schwestern waren anwesend, dunkle Merkzeichen für den überlustigen Schwarm, der stets geübten Ordnung und Ruhe nicht völlig zu vergessen; auch Franzi war gekommen, der Zustand ihres Großvaters hatte sich von Stunde zu Stunde so entschieden gebessert, als zuvor der Verfall rasch und plötzlich gewesen war; sie hatte es wohl wagen dürfen, ihn einige Stunden anderer Pflege zu überlassen, ihr Herz drängte sie, den heiligen Abend im Waisenhause zuzubringen … es war ja für sie so voll bedeutsamer Erinnerungen, und stand sie auch an einem neuen Wendepunkte ihres Lebens – hier war es doch immer, wo der Quell ihrer Tage den Lauf in die Welt begonnen, hier war es ihr Vergnügen und Bedürfniß, in Gedanken an dessen Rinnsal hinauf zu wandern, durch die sonnigen Fluren und die Eisschluchten, die er schon durchwandert, und in Träume zu versinken, welche Laufbahn ihm noch bestimmt sein mochte, ob mit anderem Gewässer vereinigt stattlich und wirkungsreich dahin zu strömen, oder allein mühsam sich durch Gestein und Klippen zu ringen, oder im breiten Sumpfe sich zu verlieren oder im Sande verrinnend zu versiechen…

So sinnend sah sie den spielenden Kindern zu und war Anfangs nicht im Mindesten überrascht, als ihr gegenüber eine Thür sich aufthat und Susi vor ihr stand; waren doch ihre Gedanken um den lieben Aichhof geschwebt – war es ein Wunder, wenn eine seiner vertrauten Gestalten ihr wie leibhaft entgegen trat? Erst als diese, im höchsten Grade überrascht, mit einem Ausruf der Freude ihr entgegenflog, als sie ihre Arme um den Nacken, ihren Kuß auf den Wangen fühlte, kam sie aus ihrer Träumerei zu sich und fand sich erwachend im Arme der schönsten Wirklichkeit. Es war eben das Glockenzeichen erklungen, das Kindervölkchen mußte sich zurückziehen und von der Freude scheiden; sehnsüchtig zurückschauend, halb willig, halb widerstrebend, folgten die Kleinen dem Rufe und der führenden Hand, sie lernten zum ersten Mal, was das Leben so oft von seinem Schüler begehrt, zu entsagen und der Freude den Rücken zu wenden, wenn sie am lieblichsten lacht!

Die Freundinnen waren beinahe allein und Niemand war, der die frohen Ergießungen des Wiedersehens gestört oder belauscht hätte.

Susi vermochte lange nicht zu sich zu kommen, vor Staunen und Freude.

„Ja, ja, Du bist es schon,“ rief sie und betastete Franzi’s Wangen und Stirn, wie um sich von ihrer Körperlichkeit zu überzeugen. „Das ist Dein liebes, gutes Gesicht, das sind Deine guten, treuen Augen! Aber wie kommst Du daher? Und jetzt und in dem Gewand?“

Franzi wandte die Augen ab und bemühte sich, ihrem Tone Alles zu entnehmen, was den Anklang eines Vorwurfs haben konnte… „Frag’ nit,“ sagte sie sanft, „Du weißt es ja eh’, was mich vertrieben hat von daheim…“

„Wer wüßt’ es besser, als ich!“ rief Susi feurig. „Bist ja um meinetwillen fort, ich bin’s ja gewesen, die Dich vertrieben hat… Um mich glücklich zu machen, hast Du Dich selber in’s Unglück gebracht … aber jetzt hat ja alles Leidwesen ein End’! Was willst in dem traurigen, schwarzen Gewand?“

„Ich versteh’ Dich nit,“ erwiderte Franzi, „aber das Gewand ist mir schon recht, das hab’ ich mir ausgesucht… In dem Haus da ist meine zweite Heimath gewesen; die würdige Mutter, die mich kennt und noch gern hat von derselbigen Zeit her, hat mich aufgenommen, einstweilen als dienende Schwester … meine erste Heimath, bei meinen lieben Eltern, die hab’ ich verloren … aus der dritten, bei Dir, auf dem Aichhof, bin ich verstoßen worden … das Waisenhaus ist meine zweite Heimath gewesen, es wird wohl meine Bestimmung sein, daß ich drinn’ bleib…“

„Aber warum denn?“ fragte Susi verwundert. „Dir steht ja die ganze Welt wieder offen! Hast Du denn gar nichts erfahren? Weißt Du denn gar nichts, was geschehen ist, seitdem Du verschwunden bist? Kannst gar nit errathen, warum ich da bin und was ich im Waisenhaus zu suchen hab’?“

Franzi blickte sie verwundert an. „Ich begreif’ Dich nit,“ sagte sie. „Red’ doch …“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_771.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)