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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

menschlicher, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, je dichter neben einander sie produciren und Ueberflüsse zum Austausche mit den Producten und Waaren ferner Länder bieten können. Der verlassenste und ärmste Straßenjunge Londons hat in der elendesten, überfülltesten Gasse mehr Gelegenheit Geld zu verdienen und ist reichlicher von wohlfeilen Lebens- und Luxusmitteln umgeben, als der absolut herrschende Indianerhäuptling in seinem von Natur reichen, vielleicht Tausende von Quadratmeilen ausgedehnten Lande.

In dem üppigreichen Indien sind unter englischer Herrschaft während der letzten zwei Jahre über zwei Millionen Menschen auf einem Gebiete, welches halb Europa ernähren könnte, thatsächlich verhungert; in London, wo drei Millionen Menschen sich auf einem Stück Erde zusammendrängen, das nicht so viel hervorbringt, wie allein die Katzen für ihren Lebensunterhalt brauchen, und wo jeden Morgen vielleicht eine halbe Million vom Schlafe erwacht, ohne zu wissen, wovon sie den Tag über leben wird, ist während der letzten Jahre wohl kein einziger geradezu Hungers gestorben. Das Räthsel löst sich, wenn man begreift, daß im volkswirthschaftlichen Sinne Uebervölkerung nicht das Verhältniß der Menschenmenge zur Bodenfläche, sondern zur Ernährungsfähigkeit, zur Möglichkeit der Verwerthung von Kräften, zu guter, wirthschaftlicher Existenz bedeutet. Mit diesen Vorbetrachtungen können wir uns getrost in die trostlosesten Gegenden des Londoner Elends begeben und uns mitten in der schmutzigsten Armuth, mitten unter den wimmelnden Schaaren von Hunger und Entbehrung eines Luxus erfreuen, der uns selbst in kleinen behäbigen Landstädten Deutschlands mehr oder weniger unzugänglich sein mag.

Wer die blühenden Vorstädte Londons mit ihren unabsehbaren Reihen von gartenumgebenen Villen verläßt, um über oder unter der Erde mit Dampf in der Gegend der Bank, wo täglich alle „respectablen“ Menschen aussteigen, sich diesen Mittelpunkt der Weltcivilisation näher zu betrachten, wird schon kaum begreifen, wie dieses London in der City noch dieselbe Stadt sein kann, wie die, welche er vor einigen Minuten draußen im Sonnenschein und im saftigsten Grün verlassen hat. In diesen steinernen Palästen um die Bank herum wird der Reichthum der Welt in Form von Wechseln und hin und her geschaufelten Goldhaufen in ganzen Säcken voll Gold und riesweise in Banknoten in Form von allen möglichen fliegenden Drachen mercantiler Speculationen umgesetzt. Die Straßen sind zwar hier nicht mit Gold gepflastert, aber blos deshalb nicht, weil eine solche Verschönerung für unpraktisch gilt; doch ist der Grund und Boden so viel werth, daß er, dicht mit Goldstücken belegt, für diese noch nicht zu haben sein würde. Ein Kauflustiger wollte einmal hier eine Baustelle dicht mit Gold belegen, wenn sie ihm dafür verkauft würde; aber der Eigenthümer schüttelte den Kopf und meinte, dazu könne er sich blos verstehen, wenn das Gold dicht neben einander auf die hohe Kante gestellt werde.

Von diesem goldenen Mittelpunkte Londons aus ist es nur einige hundert Schritte weit bis zur Hundeteichstraße, Houndsditch. Sie sieht schon selbst schäbig und schmutzig genug aus, aber wenn man um diese oder jene Ecke herum von hier aus in eine Nebengasse einbiegt, befindet man sich plötzlich wie in einem ganz fremden Lande unter Leuten, Nationen und Racen, die gar nicht wie Engländer aussehen, eine ziemlich unverständliche Sprache reden und Kleider, Sitten und Gebräuche zeigen, von denen die zehn Minuten weit davon handelnden, sehr reinlichen und sehr modern gekleideten Herren meist gar keine Ahnung haben. Diese Nebenstraße könnte ebensogut in Kairo oder in Constantinopel liegen, nur daß hier die Kameele, die Fez’ und Turbans fehlen. Im Uebrigen sieht sie und alle die engen, sich hier kaldaunenartig verschlingenden Nebenstraßen und Gäßchen ganz so schmutzig und seltsam aus mit ihren drei Etagen hohen, verfallenen, schmutzigen, schimmeligen Höhlen und Hütten, Schuppen und Buden, die zum Theil straßeneinwärts so überhängen, als wollten sie sich gegenseitig in die Arme fallen. Aus den nicht selten zerbrochenen oder offenen, hier und da mit Eisengittern verschlagenen Fenstern quillt ein solcher Reichthum von Taschentüchern und alten Kleidungsstücken, von Pfannen und Töpfen und Tiegeln, von Hacken und Spaten, von alten Herrenstiefeln und koketten Damenhüten, von allen möglichen Culturinstrumenten und Civilisationswerkzeugen hervor, daß sie den engen Streifen nebligen Himmels über uns verdunkeln und die Straße stellenweise ganz überwölben. Und unten auf dem engen, schmutzigen, klebrigen Straßenpflaster, welch’ ein Gewühl und Gewimmel von ameisenartiger Geschäftigkeit, von Handel und Wandel, von Schmutz und Elend, von Licht und Schatten, voll dichtgedrängter Herrlichkeiten für Gaumen und Magen, für Kleidung, ja für Putz und Pracht! Freilich muß man am Sonntag Morgen kommen, um diese malerische Wunderwelt in ihrer ganzen Herrlichkeit kennen zu lernen. Zu diesem Zwecke geht man aus der City etwa mit Sonnenaufgang ostwärts durch Bishopsgatestreet bis Houndsditch und hier auf der linken Seite bis zu einer engen Passage, welche den Namen Phil’s-Buildings führt. Sie endigt mit einem steinernen Thore, aus dessen Dunkelheit ein dichtes Gedränge von Menschen und überfüllten Buden schauerlich hervorleuchtet.

Dieses Thor bildet den Haupteingang zu dem großen Kleider- und Lumpenmarkt der Ostendier Londons, einem großen, viereckigen Platz, der von allen Seiten mit hohen Wänden und von ineinander hakenden hölzernen Buden und Schuppen umgeben ist. Die Verkaufsstellen strotzen von männlicher und weiblicher Kleidung jeder Art und jedes Ranges und Werthes. Es fehlt nicht an Sammet und Seide, aber auch nicht an zerfetzten Lumpen, die gleichwohl immer noch viel besser sind, als die, welche die Käufer und Käuferinnen tragen, so daß sie sich hier für verhältnißmäßig wenig Kupfermünze metamorphosiren und in ihren Sonntagsstaat werfen können. Auch an erneuerten Schuhen und Stiefeln, das Paar zu vier Pence, oder drei Silbergroschen vier Pfennige, fehlt es nicht. Freilich waren die Stiefeln einem Jungen, welchem sie für diesen Preis geboten wurden, noch zu theuer, so daß er den wohlmeinenden Rath erhielt, er möge sich außerhalb dieses aristokratischen Kleider-Bazars in der nächsten Straße nach einem wohlfeileren Paar umsehen. Und ich zweifle nicht, daß er in der eigentlichen Marktstraße ebenso gute Stiefeln für zwei und einen halben Silbergroschen fand, denn in diesem Bazar müssen die Verkäufer für ihre Verkaufsstellen eine Abgabe entrichten, so daß sie schon deshalb auf höhere Preise halten und überhaupt auf ein respectableres Publicum rechnen. Der kaum drei Käse hohe Junge hier in rothem und blauem Sammet, in welchen ihn eine wohlthätige Lady des Westendes gesteckt haben mag, trägt auch sein Brett voll kleiner Kuchen und Zuckersachen, die er mit schriller Stimme ausbietet, mit einer so vornehmen Miene, als sei er sich der Vorzüge dieses Bazars bewußt und es komme ihm blos auf anständige Kunden an. Doch verkauft er, wie ich sehe, ohne Unterschied des Standes und der Person jedes Stück Kuchen und Fruchttorte für einen halben Penny.

„Only a h’penny“„ (Nur einen halben Penny) schreit eine tiefere Stimme neben ihm und bietet für diesen Preis ein Glas schäumender Limonade, die für den achtfachen Preis anderswo nicht besser zu haben ist und die sich selbst der Bürgermeister oder sonstige Aristokrat einer kleinen deutschen Stadt nicht so bequem und billig herstellen kann, wie sie hier jedem zerlumpten Jungen vor den Mund gehalten wird. Ueberhaupt kennen wohl die meisten Bewohner von Dörfern und kleinen Städten in Deutschland diese Herrlichkeiten, welche hier für das niedrigste Stück Kupfer massenweise ausgeschrieen und gekauft werden, kaum dem Namen nach. Das naschhafteste und verzogenste Kind in Deutschland hat wohl nie von den weißen Cocosnüssen gekostet, welche hier in schönen, frischen Schnitten aufgehäuft liegen und hinter den Zähnen der schmutzigsten Jungen verschwinden.

Auf den großen umhergetragenen Präsentirtellern fliegender Conditoren lachen ganze Berge von Zuckerwaaren in Form von „drops“ (Tropfen) aller möglichen Farben und Fruchtkuchen, Pasteten und Torten aus ihren ziemlich dicken Staubkrusten hervor, welche den Zucker vertreten, und locken alle verdienten, erworbenen oder gestohlenen halbe und Viertelpence aus den Taschen der zahlreich umherlungernden Jugend. Und giebt es nicht mitten auf der Straße große Kessel voll Aalsuppe, fünf Pfennige die Tasse?

Welcher Crösus eines deutschen Krähwinkels kann sich für den zehnfachen Preis und für zehnfache Mühe einen solchen Labetrunk verschaffen? Selbst tüchtige Stücke würziger Ananas aus halbverfaulten Köpfen stehen hier dem niedrigsten Proletarier wahrhaft spottbillig zur Verfügung. In den Läden hinter schmutzigen Glasscheiben locken verführerisch riesige, geröstete Kartoffeln mit und ohne Butter, substantielle Stücke von Erbsenpudding, gekochtes und gebratenes Fleisch kalt und warm, Kaffee und Thee, weichgekochte Eier, Streifen gerösteten Specks, frische Austern, alle Arten von geräucherten und gekochten Fischen und Crustaceen, alle mögliche

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_662.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)