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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Schreiber hinzugesetzt, der sich noch längere Zeit im Dorfe herumtrieb und auch die beiden andern Zeugen ermittelte, die ebenfalls den Schulzen und seine Braut in’s Buchenwäldchen und an den Rosenhag gehen sahen.“

„Und welchen Zweck verfolgten Sie bei der wahrheitswidrigen Bezichtigung Ihres früheren Brodherrn?“ fragte der Präsident weiter.

„Der Schreiber hatte mir gesagt, der Schulze werde in eine große Geldstrafe verurtheilt und ein Theil davon ihm als Angeber und mir als Hauptzeugen zugesprochen werden. Dann aber wollte ich mich auch an meinem Herrn rächen, weil er mich häufig gestraft und hinter andere Dienstleute zurückgesetzt hat.“

Der Staatsanwalt, der mit dem lebhaftesten Interesse dem Verhör gefolgt war, erhob sich. „Nach diesen wiederholten, bestimmten und motivirten Erklärungen,“ begann er, „beantrage ich die sofortige Verhaftung des Zeugen wegen Meineids. Die weiteren Anträge in Bezug auf die Sache selbst behalte ich mir vor, bis der Beschluß publicirt ist.“

„Der Zeuge ist sofort zu verhaften,“ verfügte der Präsident, nachdem die beisitzenden Richter ihre volle Zustimmung zu dem Antrage der Staatsanwaltschaft zu erkennen gegeben hatten. „Führen Sie den Mann in’s Gefängniß, Gerichtsdiener, – der Haftbefehl wird ihm eingehändigt werden.“

Der Diener war eben im Begriff, sich des Menschen, der, ohne eine Bewegung zu verrathen, den Beschluß des Gerichts gehört hatte, zu bemächtigen und ihn einem Gefängnißbeamten zuzuführen, als das Wort „Nimmermehr!“ von der Anklagebank gehört wurde. Joseph, der während der letzten Vorgänge anscheinend theilnahmlos geblieben war, hatte sich plötzlich erhoben und war dicht an die Brüstung getreten. Obgleich jede Muskel seines kräftigen Körpers unter dem Druck dieses Moments zu erbeben schien, sprach er doch mit fester, im ganzen Saale widerhallender Stimme: „Lassen Sie den Mann in Frieden ziehen, – er hat die Wahrheit gesprochen bis zu dem Augenblick, als er sich selbst des Meineids anklagte. Die Reue dieses Unglücklichen fällt schwerer auf mein Haupt, als sein Leichtsinn, aber um so weniger kann ich sein Opfer annehmen. Ich darf jetzt keine Rücksichten mehr nehmen; jetzt – Herr Präsident – beantworte ich die erste Frage, die Sie an mich stellten. Ich bekenne mich schuldig! Schicken Sie mich nun in’s Zuchthaus, wie es Ihnen das Gesetz vorschreibt!“

Man erzählt von einem Ton, der zuweilen in der Wüste gehört werden soll, einem Ton – so markdurchdringend und erschütternd, als ob sich die Verzweiflungsqual aller Creatur in ihm ausdrücke. Ein solcher Ton, der Klageruf eines gebrochenen Herzens, hallte jetzt durch den Saal und über der Brüstung der Galerie wurde das blonde Haupt eines jungen Weibes sichtbar, dessen gramerfüllte Züge auf die Anklagebank herunterstarrten. „Joseph, mein geliebter Mann, ich sehe Dich niemals wieder!“ Dann – ein dumpfer Fall auf den Boden und Alles war still, wie das Grab.

Die Verhandlung wurde geschlossen und das Verfahren niemals wieder aufgenommen. Joseph folgte nach einigen Tagen dem Sarge seiner Gattin, aber er wußte nicht, welch’ kostbarer Schatz in die kühle Erde gesenkt und mit Rosen überschüttet wurde. Ueber seinen Geist war eine ewige Nacht eingebrochen. Sie allein bewahrte ihn vor der Verurtheilung in Gemäßheit eines Gesetzes, das, so gerechtfertigt seine Strenge in den Fällen ist, welche dem Gesetzgeber vorgeschwebt haben mögen, in anderen Fällen dem Rechtsbewußtsein tiefe Wunden schlägt. Die Keuschheit eines Kindes ist etwas Heiliges und muß dem gewissenlosen Wüstling und Verführer gegenüber energisch geschützt werden. Ein Mord kann entschuldbarer sein und eine mildere Beurtheilung beanspruchen, als die Vergiftung der reinen Seele eines Kindes. Aber die Entscheidung der Frage, ob ein solcher Fall vorliegt, sollte nicht abhängig gemacht werden von Tag und Stunde,[1] sondern – ebenso wie Strafart und Strafmaß – von der Individualität der Person und von den der freien Würdigung des Richters unterliegenden anderweitigen Thatumständen. Andererseits hätte man überall die weise Bestimmung der Carolina und des älteren preußischen Rechts, wonach die strafrechtliche Verfolgung nur auf Antrag der Verletzten oder ihrer Angehörigen eintreten durfte, mindestens in dem Falle aufrecht halten sollen, wenn das öffentliche Interesse nicht durch die Erregung eines öffentlichen Aergernisses tangirt wird.

H. Black.




Deutschlands große Industriewerkstätten.
Nr. 4. Bei dem Locomotivenkönig.
I.


Wer von einem hochgelegenen Punkte in oder bei Berlin einen Blick auf die Stadt wirft, der bemerkt unter dem Wald von Schornsteinen, welcher sich im Nordwesten über dem Häusermeer der Stadt erhebt, ein Exemplar von außergewöhnlicher Gestalt. Einem riesigen Candelaber gleich, unterbricht er das gleichförmige Bild der übrigen Essen, von denen ihn manche vielleicht an Höhe überragen. Unwillkürlich fragt der Fremde nach der Bedeutung dieses eigenthümlichen Schornsteins, und ganz sicher antwortet der heimische Führer mit einigem Selbstbewußtsein: „Das ist der Schornstein der Borsig’schen Fabrik!“ Auf dem vier Meilen entfernten Pfingstberge zu Potsdam wird auf diese Merkwürdigkeit mit derselben Genugthuung hingedeutet, wie auf irgend einem beliebigen Höhepunkte, einem Kirchthurme etc. in Berlin selbst.

Es ist eine bekannte Eigenthümlichkeit gerade der Berliner, daß sie auf das Großartige ihrer Vaterstadt mit ganz besonderem Stolz hinblicken; selten haben sie dazu gerechtere Ursache, als im Hinblick auf die großartigen Borsig’schen Etablissements, welche den Ruhm der Berliner Industrie über die Eisenstraßen eines großen Theiles von Europa, ja selbst bis in den fernen Orient tragen. Ganz sicher gehören die Borsig’schen Maschinenfabriken zu den imposandesten Sehenswürdigkeiten in Berlin; unwillkürlich wird man mit Bewunderung für den Mann erfüllt, der, von kleinen Anfängen ausgehend, diese Anlagen geschaffen und zu solcher Bedeutung erhoben hat. Möge uns also der geneigte Leser zu einer näheren Kenntnißnahme dieser Etablissements folgen.

Wir beginnen unseren Besuch mit dem Eisenwerk in Moabit, welches sich unter jenem erwähnten candelaberartigen Thurme ausbreitet, betrachten unsere heutige Schilderung indeß nur als Einleitung, uns eine eingehendere Darstellung der Borsig’schen Anstalten, ihrer mannigfachen Leistungen und Erzeugnisse, ihrer Bedeutung und ihres Umfangs für einen zweiten Artikel aufsparend, welcher zunächst den großen Borsig’schen Werken in Berlin selbst, den weltberühmten Locomotivenwerkstätten, gewidmet sein wird.

Es ist ein seltsames und eigenthümliches Terrain im Nordwesten von Berlin auf dem rechten Spreeufer, dem Thiergarten gegenüber, auf welchem sich jetzt ein reiches industrielles Leben entfaltet hat. Preußens erster König schenkte den überaus sandigen und sterilen Boden einer Anzahl von französischen Colonisten zur Bebauung mit Maulbeerplantagen. Bald jedoch verzweifelten die Franzosen an dem Erfolge ihrer Anlagen und nannten das ihnen geschenkte Land daher „terre de Moab, terre maudite“ Hieraus entwickelte sich der Name „Moabit“, resp. „Moabiter Land“, und die Ortschaft erlangte eine locale Berühmtheit durch die Fabrikation von „Pumpernikel“ und durch Anlage einer ganzen Reihe von Tabagien, welche, wie zum Theil auch noch heute, den Zielpunkt des Vergnügens für die Berliner Dienstboten an Sonn- und Festtagen bildeten. Seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts hat man nun angefangen an dem Ufer der Spree, welche die Ortschaft begrenzt, Fabriken anzulegen, die sich von Jahr zu Jahr vermehrten und unter denen die Borsig’schen Etablissements jetzt selbstverständlich an der Spitze stehen.

Der Gründer dieser letzteren, der nur zu früh, am 6. Juli 1854, verstorbene geheime Commercienrath A. Borsig, begann


  1. So die meisten deutschen Strafrechte in Nachahmung des französischen Rechts. Vergl. auch § 144, Nr. 3 des preuß. Strafgesetzbuchs.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 554. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_554.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)