Seite:Die Gartenlaube (1867) 450.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

aufstiegen?“ sprach die Regierungsräthin leicht scherzend. „Denke Dir nur, Johannes,“ fuhr sie ernster werdend, mit einem sanften Aufschlag ihrer Augen fort, „da haben wir heut Morgen von einer unglücklichen, aber braven Familie gehört – die armen Kinder haben nicht einmal Wäsche unter ihren elenden Kleidern – das dauert mich unsäglich – Tantchen und ich haben auch schon an eine Collecte gedacht. … Hättest Du die Leinwand angenommen, da wäre ich als Bettlerin zu Dir gekommen – Du hättest sie mir, wohl oder übel, schenken müssen; sie hätte prächtige Hemden für die Kinder gegeben – ich würde sie selbst genäht haben –“

„O, über diesen Tiefsinn christlicher Barmherzigkeit!“ unterbrach sie der Professor mit einem ingrimmigen Auflachen. Das letzte Scherflein einer armen Familie muß her, damit die Noth anderer Bedürftiger gestillt werde – und über diesem Liebeswerk steht die großmüthige Vermittlerin und zeigt der zerknirschten Welt den Glorienschein weiblicher Mildthätigkeit um ihre blonden Locken!“

„Du bist boshaft, Johannes!“ rief gekränkt die junge Wittwe. „Ich gebe sehr gern –“

„Aber es darf mich um’s Himmelswillen nichts kosten, nicht wahr Adele?“ ergänzte er in bitterer Ironie. „Warum greift denn die echte, deutsche, fromme Hausfrau nicht in ihren vollen Leinenschrank? … Hier dies völlig überflüssige Stück z. B.,“ – er griff nach der Leinwandrolle auf ihrem Arm. Beide Damen wehrten entsetzt seine Hand ab, als beabsichtige sie ein Attentat auf das Leben der jungen Wittwe selbst.

„Nein, das geht denn doch über den Spaß, Johannes!“ klagte sie, „dies wunderfeine Linnen!“

„Ich habe vorhin den Vorwurf von Dir hören müssen,“ wandte sich der Professor an seine Mutter, ohne den Kummer seiner tiefbeleidigten Cousine weiter zu beachten, „daß ich die Früchte meines sehr theuern Studiums nicht so verwerthe, wie es nöthig sei … Ich kann Dir versichern, daß ich auch praktisch bin und es für eine Aufgabe des Mannes halte, zu erwerben – aber nebenbei habe ich doch auch noch eine etwas höhere Meinung von meinem Beruf; er führt weit mehr als jeder andere Wirkungskreis – der des Geistlichen nicht ausgenommen – auf das weite Gebiet menschlicher Barmherzigkeit. Ich werde nie zu den Aerzten gehören, die mit der einen Hand einem unbemittelten Kranken von seinem Schmerzenslager aushelfen, um ihn auf der anderen Seite in die Sorge, wie er wohl diese Hülfe bezahle, zu stürzen.“

Er hatte bis dahin Felicitas’ Anwesenheit völlig unbeachtet gelassen. Auch jetzt streifte sein Blick nur wie unbewußt nach ihr hinüber; aber er blieb an diesem in innerer Befriedigung förmlich leuchtenden Gesicht hangen – zum ersten Mal begegneten sich diese vier Augen mit dem Ausdruck innigen Verständnisses – freilich nur mit der Schnelligkeit des Blitzes; das junge Mädchen senkte tödtlich erschrocken die Lider, und der Professor zog plötzlich seinen Hut mit einer fast zornigen Bewegung so tief in die Stirn, daß das stark geröthete Gesicht unter der breiten Krempe beinahe verschwand.

„Nun meinetwegen, das ist Deine Sache, Johannes, das magst Du halten, wie Du willst,“ sagte Frau Hellwig eiskalt. „Deinem Großvater Hellwig hättest Du übrigens mit der Ansicht nicht kommen dürfen. Die ärztliche Praxis ist Dein Geschäft, und ‚im Geschäft‘, pflegte er zu sagen, ‚darf man keine sentimentalen Anwandlungen dulden.‘“

Sie schob mißgelaunt ihre schwerfällige Gestalt nach der Hofthür. Die Regierungsräthin drückte mit einer lieblich schmollenden Geberde das Paket an ihr Herz und folgte ihr, neben dem Professor fortschreitend. In der Hausflur wandte der Letztere den Kopf noch einmal nach dem Hofe zurück. Felicitas hob eben Aennchen aus dem Wagen, um sie auf ihre Bitten noch einige Mal auf und ab zu tragen. Man hätte meinen mögen, die zarte, leichte Gestalt müsse zerbrechen in dem Augenblick, wo das Kind, die Arme um den feinen Hals des Mädchens schlingend, in seiner ganzen Schwere emporgehoben wurde. Der Professor kehrte sofort in den Hof zurück.

„Ich habe Ihnen schon einigemal das Tragen des Kindes verboten – es ist zu schwer für Sie!“ rief er ihr verweisend und ärgerlich zu. „Hat Ihnen Friederike nicht gesagt, daß Sie Heinrich zu Hülfe nehmen sollen?“

„Das hat sie vergessen; – Heinrich ist auch nicht zu Hause.“

Der Professor nahm ihr das Kind vom Arm und setzte es in den Wagen, wobei er ihm ernst zuredete. Der Ausdruck seines Gesichts war strenger und finsterer als je – zu jeder anderen Zeit würde ihm Felicitas trotzig den Rücken gekehrt haben, aber heute war sie schuld an dieser üblen Laune; sie hatte das ernste, tiefe Studium des Arztes durch ihren Gesang unterbrochen und ihm möglicherweise eine sich eben gestaltende, neue Idee verscheucht. Es half nichts, und wenn er auch noch so zornig und gereizt war, sie mußte um jeden Preis die Last loswerden, die ihre Seele bedrückte, er mußte erfahren, daß sie unwissentlich gefehlt hatte. Der Moment war ihr insofern günstig, als sie ihren Gegner nicht anzusehen brauchte; er neigte sich über den Wagen und sprach noch mit Aennchen.

„Ich habe Sie sehr um Verzeihung zu bitten, daß Sie durch mein Lied belästigt worden sind,“ sagte sie schüchtern. Dieser ihm völlig neue, lieblich bittende Ton ihrer Stimme übte eine merkwürdige Wirkung auf ihn aus; er fuhr empor und warf einen durchdringenden Blick auf das Gesicht des Mädchens. „Wenn Sie mir doch glauben wollten,“ fuhr sie eindringlich fort, „daß ich nicht die entfernteste Ahnung von Ihrer Anwesenheit im Hause gehabt habe!“

Das Wort „Lied“ mochte die Erinnerung an Felicitas’ Thränen in Aennchen wecken. „Böser Onkel! Arme Caroline hat geweint!“ schalt sie und hielt ihm drohend die kleine, geballte Faust entgegen.

„Hat das Kind Recht, Felicitas?“ fragte er rasch.

Sie vermied es, diese Frage direct zu beantworten. „Ich war sehr unglücklich in dem Gedanken –“

„Daß man glauben könne, Sie wollten sich hören lassen?“ unterbrach er sie, während ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht hinhuschte. „Darüber mögen Sie sich beruhigen… Für wie rachsüchtig und bösartig unversöhnlich ich Sie auch halte – an Gefallsucht Ihrerseits denkt meine Seele nicht – das brächte ich mit dem besten Willen nicht fertig… Ich habe Sie bitten lassen, zu schweigen – nicht eigentlich, daß Sie mich gestört hätten – sondern weil ich – unfähig bin, Ihre Stimme zu hören… Das kränkt Sie wohl nun über die Maßen?“

Felicitas schüttelte lächelnd den Kopf.

„Nun, das ist vernünftig… Uebrigens will ich Ihnen etwas sagen.“ – Er bog den Kopf tief herab und sah ihr fest und aufmerksam forschend in die Augen. „Ihr heutiger Gesang hat mir ein strengverschlossenes Geheimniß verrathen!“

Felicitas erschrak tödtlich. Er war ihrem Verkehr mit Tante Cordula auf die Spur gekommen. Sie fühlte, wie sie flammendroth wurde, und sah ihn ängstlich verwirrt an.

„Ich weiß nun, weshalb Sie sich jedweden fernern Beistand unsererseits für die Zukunft verbeten haben. In die Sphäre, in der Sie später leben und wirken wollen, reicht freilich unser Arm nicht – Sie werden auf die Bühne gehen!“

„Da irren Sie sich!“ antwortete sie entschieden und sichtlich erleichtert. „Wenn ich es auch für eine der herrlichsten Aufgaben halte, seinen Mitmenschen die Schöpfungen großer Geister vorführen zu dürfen, so fehlt mir doch dazu gänzlich der Muth. Ich bin unsäglich feig der Oeffentlichkeit gegenüber und würde es jedenfalls schon aus Mangel an Selbstvertrauen in meinen Leistungen nicht über die Mittelmäßigkeit hinausbringen… Weiter gehören zu diesem Beruf gründliche musikalische Kenntnisse, und die werde ich nie besitzen.“

„Das läge doch ganz und gar in Ihrer Macht.“

„Eben deshalb. Ich habe mir als Kind eingebildet, die Musik sei ein Ding, das man durchaus nicht wie Lesen und Schreiben lernen könne – ein Etwas, das, so ungefähr wie die Lehre Jesu, direct vom Himmel gekommen sein müsse – und diese kindische Vorstellung will ich behalten… Daß das, was mich zu Thränen rühren und mehr begeistern kann, als viele andere Herrlichkeiten der Welt, auf steifen pedantischen Gesetzen beruhen und auf dem Papier in einer Anzahl dicker, häßlicher Notenköpfe stehen soll, die ängstlich nachgezählt werden müssen – der Gedanke schon raubt mir allen Genuß; er berührt mich so abstoßend wie die Thatsache, daß das Knochengerüst eines schöngebildeten Menschengesichts ein Todtenkopf ist – ich thue deshalb grundsätzlich keinen Blick in die leidige Maschinerie.“

„Da haben wir ja gleich wieder den Grundton in Ihrer Natur, der sich gegen Alles auflehnt, was Gesetz und Regel heißt,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_450.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)