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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Stolz, der sich mit wahrhaft männlicher Unbeugsamkeit inmitten der tiefsten Demüthigungen aufrecht erhalten hatte, eine energische Seele voll unerschöpflicher Kraft, und das Alles in diesem jungen Geschöpf, das sich da so kindlich lieblich, scheinbar im Schlafe, zusammenschmiegte. Ihr Kopf ruhte, vom untergelegten Arm gestützt, auf dem Fenstersims, die atlasweiße Haut des Gesichts und die schimmernde Pracht der Haare hoben sich scharf ab von dem verwitterten, grauen Gestein. Unschuldig still und leidvoll erschien das reine Profil mit den sanftgeschlossenen Lippen und den schwermüthig herabgeneigten Mundwinkeln – lagen doch die dunklen Wimpern tief auf der bleichen Wange und bedeckten die Augen, die so oft in Groll und Erbitterung aufblitzten.

Der Professor war geräuschlos herangetreten, er betrachtete sie einen Moment unbeweglich, dann bog er sich zu ihr nieder.

„Felicitas!“ klang es weich und mitleidsvoll von seinen Lippen.

Sie fuhr empor und starrte wie ungläubig in die Augen, die auf sie niedersahen – ihr Name, von ihm ausgesprochen, hatte sie wie ein elektrischer Schlag berührt. Aber ihre Gestalt, die eben noch wie ein harmloses Kind sich elastisch zusammengeschmiegt hatte, sie stand urplötzlich da, in jedem Muskel gespannt, gleichsam aufhorchend, als gelte es, einen feindlichen Angriff abzuwehren.

Der Professor ignorirte diese Umwandlung völlig.

„Ich höre von Friederike, daß Sie leidend sind,“ sagte er in dem gewohnten, ruhig freundlichen Ton des Arztes.

„Ich fühle mich wieder wohl,“ antwortete sie gepreßt. „Ungestörte Ruhe stellt mich stets rasch wieder her.“

„Hm – Ihr Aussehen jedoch,“ er vollendete den Satz nicht, streckte aber ohne Weiteres den Arm herein und wollte ihr Handgelenk ergreifen. Sie wich einige Schritte tiefer in’s Zimmer zurück.

„Seien Sie vernünftig, Felicitas!“ ermahnte er, immer noch freundlich ernst, aber seine Brauen runzelten sich finster, als das Mädchen bewegungslos stehen blieb, während sie die Arme beinahe krampfhaft fest um ihre Taille legte. Trotz des dichten Bartes konnte man sehen, wie er zornig die Lippen zusammenkniff.

„Nun, so werde ich nicht mehr als Arzt, sondern als Vormund zu Ihnen sprechen,“ sagte er in hartem Ton, „und als solcher befehle ich Ihnen, sofort hierher zu kommen!“

Sie sah nicht auf, ihre Wimpern legten sich vielmehr noch tiefer auf die Wangen, die eine glühende Röthe bedeckte, und ihre Brust hob und senkte sich im schweren inneren Kampfe, aber sie kam langsam heran und reichte ihm schweigend, mit weggewandtem Gesicht, die Hand hin, die er sanft in die seine nahm… Diese außerordentlich schmale, kleine, aber hartgearbeitete Hand zitterte so heftig, daß es wie ein tiefes Erbarmen durch die ernsten Züge des Professors ging.

„Thörichtes, eigensinniges Kind, da haben Sie mich nun wieder einmal gezwungen, mit aller Strenge gegen Sie aufzutreten!“ sagte er mit mildem Ernst. „Und ich hätte gewünscht, daß wir ohne weitere Feindseligkeiten auseinandergehen sollten… Haben Sie denn gar keinen anderen Blick für mich und meine Mutter, als den eines unauslöschlichen Hasses?“

„Man kann nicht anders ernten wollen, als man gesät hat!“ entgegnete sie mit halberstickter Stimme. Sie strebte fortwährend, sich loszuwinden, und ihre Augen hafteten mit einem so still entsetzten Ausdruck auf den Fingern, die ihr Handgelenk weich, aber kräftig umschlossen, als seien sie glühendes Eisen.

Jetzt ließ er ihre Hand rasch fallen. Milde und Mitleid verschwanden aus seinen Zügen, er stieß mit der Spitze seines Stockes ärgerlich nach einigen schuldlosen Grashalmen, die zwischen dem Gefüge des Pflasters sproßten – Felicitas athmete auf, so sollte er sein, rauh, hart; sein mitleidsvoller Ton war ihr entsetzlich.

„Immer derselbe Vorwurf,“ sagte er endlich kalt. „Ihr übermäßiger Stolz mag freilich oft genug verwundet worden sein; war es doch gerade unsere Aufgabe, Sie auf möglichst gemäßigte Ansprüche zurückzuführen… Ich kann getrost Ihren Haß auf mich nehmen, denn ich habe nur Ihr Bestes gewollt, und meine Mutter? … nun, ihre Liebe mag schwer zu gewinnen sein, das will ich nicht bestreiten, aber sie ist unbestechlich gerecht, und schon ihre Gottesfurcht wird nicht zugelassen haben, daß Ihnen wirkliches Leid und Unrecht geschehe… Sie sind im Begriff, hinauszutreten in die Welt und sich auf eigene Füße zu stellen, dazu bedarf es in Ihrer Lage vor Allem der Fügsamkeit… Wie soll Ihnen der Verkehr mit den Menschen überhaupt möglich werden bei Ihren falschen Ansichten, die Sie so eigensinnig festhalten? Wie wollen Sie je auch nur ein Herz gewinnen mit diesen trotzigen Augen?“

Sie hob die Wimpern und sah ihn ruhig und fest an.

„Wenn man mir beweist, daß meine Ansichten der Moral und der reinen Vernunft gegenüber nicht Stich halten, dann will ich sie gern fallen lassen,“ entgegnete sie mit ihrer tiefen, ausdrucksvollen Stimme. „Aber ich weiß, ich stehe nicht allein mit der Ueberzeugung, daß keinem Menschen, und sei er, wer er wolle, das Recht zukommt, Andere zu geistigem Tod zu verurtheilen; ich weiß, daß tausend Andere mit mir fühlen, wie ungerecht und strafbar es ist, einer Menschenseele die Berechtigung des Aufwärtsstrebens abzusprechen, weil sie in einem niedrig geborenen Leib wohnt… ich gehe getrost hinaus unter die Menschen, denn ich habe Vertrauen zu ihnen und hoffe zuversichtlich diejenigen zu finden, denen ich ganz gewiß nicht trotzig gegenüberstehen will… Ein unglückliches Menschenkind wie ich, das unter gemüthlosen Seelen leben muß, hat keine andere Waffe, als seinen Stolz, keine andere Stütze, als das Bewußtsein, daß es auch Gottes Kind, Geist von seinem Geiste ist. Ich weiß, daß für ihn alle die Stufen und Schranken in der menschlichen Gesellschaft nicht bestehen – sie sind Menschenerfindung, und je kleiner und erbärmlicher die Seele, um so fester hält sie an ihnen.“

Sie wandte sich langsam um und verschwand hinter der Thür, die nach der Gesindestube führte, und er stand draußen und starrte ihr nach, dann drückte er den Hut tief in die Stirn und schritt dem Hause zu. Was in diesem gesenkten Kopf vorging, vermochte wohl Niemand zu ergründen; soviel aber war gewiß, jener Glanz seiner Augen, den er vorhin mit heimgebracht, war verflogen – es lag wie ein finster brütender Geist auf den stark gefurchten Brauen.

In der Hausflur standen der Rechtsanwalt Frank und Heinrich beisammen. Der Professor sah rasch, wie erwachend, auf, als ihre Stimmen sein Ohr berührten.

„Nun, Du hast Patienten im Hause, Professor?“ fragte der Rechtsanwalt, indem er ihm die Hand reichte. „Die Feuergeschichte hat fatale Folgen, wie ich höre – das Kind –“

„Hat ein tüchtiges Schnupfenfieber,“ ergänzte der Professor trocken. Er schien offenbar nicht in der Laune, sich auf weitere Erörterungen einzulassen.

„Ach, Herr, Professor, das hat ja wohl nicht viel zu bedeuten!“ meinte Heinrich. „Das Kind ist einmal eine arme, kranke Creatur und pimpelt den ganzen Tag – wenn aber so ein Mädchen, wie die Fee, der das ganze Jahr keine Ader weh thut, den Kopf hängt, da kommt Einem die Angst.“

„Nun, von der Kopfhängerei habe ich nicht viel bemerken können,“ sagte der Professor mit auffallend scharfer Stimme – man sah, wie unter dem Bart die Mundwinkel ironisch zuckten. „Der Kopf sitzt fest wie irgend einer – darauf kannst Du Dich verlassen, Heinrich!“

Er schritt mit dem Rechtsanwalt die Treppe hinauf. Auf den obersten Stufen kam ihnen Aennchen entgegen; sie war barfuß und im Nachtkleidchen, auf dem gedunsenen Gesichtchen glühten Fieberflecken und die Augen waren geschwollen vom Weinen.

„Mama fort, Rosa fort, Aennchen will Wasser trinken!“ rief sie dem Professor entgegen. Er nahm sie erschrocken auf den Arm und trug sie in das Schlafzimmer zurück – Niemand war zu sehen. Erzürnt rief er nach dem Mädchen. Eine ferne Thür ging auf und mit erhitztem Gesicht, das Bügeleisen in der Hand, kam Rosa herbeigelaufen; dort in dem Zimmer blähte sich eine ungeheure, blüthenweiße Mullwolke auf dem Bügelbret.

„Wo stecken Sie denn? Wie können Sie das kranke Kind allein lassen?“ fuhr er sie an.

„Ach, Herr Professor, ich kann mich doch nicht in Stücke theilen!“ vertheidigte sich das Mädchen, fast weinend vor Aerger. „Die gnädige Frau muß durchaus ein frischwaschenes Kleid morgen früh haben – das Waschen und Bügeln nimmt ja gar kein Ende mehr – wenn Sie nur wüßten, solch’ ein Kleid ist eine Heidenarbeit –“

Sie hielt inne, der Rechtsanwalt brach in ein lautes Gelächter aus.

„O, über die Frau im einfachen weißen Mullkleide!“ rief er und hielt sich die Seiten, denn das finster verlegene Gesicht des Professors erschien ihm urkomisch.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 419. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_419.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)