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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Tisch leerte sich allmählich und dadurch wurde auch ein tiefer unten liegendes, dickes, geschriebenes Notenheft sichtbar. „Musik zu der Operette: ‚die Klugheit der Obrigkeit in Anordnung des Bierbrauens‘, von Johann Sebastian Bach,“ stand auf dem Titelblatt.

Die alte Mamsell legte bedeutungsvoll den Finger auf den Namen des Componisten. „Gelt, das kennst Du noch nicht?“ fragte sie mit einem wehmüthigen Lächeln. „Das hat viele Jahre zusammengerollt im obersten Fach meines Geheimschrankes gelegen… Heute Morgen gingen allerlei Gedanken durch meinen alten Kopf – sie meinten alle miteinander, es sei Zeit, Ordnung für die Heimreise zu machen, und nach dieser Ordnung gehört das Heft da in die rothe Mappe… Es mag wohl das einzige Exemplar sein, das existirt – es wird dereinst mit Gold aufgewogen werden, meine liebe Fee. Das Textbuch, ganz speciell für unsere kleine Stadt X. und meist im hiesigen Dialekt geschrieben, ist vor beinahe zwei Jahrzehnten hier aufgefunden worden und hat um seiner muthmaßlichen Bach’schen Composition willen in der musikalischen Welt Aufsehen erregt; diese Composition, die man noch sucht – hier ist sie. Die Melodien, die für die Welt weit über ein Jahrhundert hier auf dem Papier geschlafen haben, sind für die Musiker eine Art Nibelungenhort, um so mehr, als sie die einzigen eigentlichen Opernmelodien sind, die Bach je componirt hat… Anno 1705 haben die Schüler der hiesigen Landesschule und verschiedene Bürger drüben im alten Rathhaussaale, damals der Tuchboden genannt, die Operette aufgeführt.“

Sie schlug das Titelblatt um; da stand auf der Rückseite in zierlicher Schrift: „Johann Sebastian Bach’s eigenhändig geschriebene Partitur, von ihm erhalten zum Andenken im Jahre 1707. Gotthelf v. Hirschsprung.“ – „Der da soll mitgesungen haben,“ fuhr sie mit etwas vibrirender Stimme fort, indem sie auf den letzten Namen zeigte.

„Und wie kam dies Heft in Deine Hände, Tante?“

„Durch Erbschaft,“ klang es kurz abweisend, fast rauh von Tante Cordula’s Lippen, während sie die Partitur in die rothe Mappe legte.

In solchen Momenten war es geradezu unmöglich, ein Gespräch verlängern zu wollen, welches die alte Mamsell abzubrechen wünschte. In Haltung und Geberden der kleinen, hinfälligen Gestalt lag dann eine so entschiedene Zurückweisung, daß nur Tactlosigkeit und unverschämte Neugierde vorzugehen vermochten. Felicitas warf einen sehnsüchtigen Blick auf das verschwindende Manuscript; die Melodieen, die kein Lebender, außer Tante Cordula, kannte, erregten ihr höchstes Interesse, aber sie wagte nicht, um einen Einblick zu bitten, wie sie ja auch vorhin bei ihrer Mittheilung die Armbandgeschichte völlig unerwähnt gelassen hatte – nie hätte sie eine schmerzlich klingende Saite im Innern ihrer Beschützerin zum zweiten Mal berühren mögen.

Die alte Mamsell schlug den Flügel auf und Felicitas zog sich in den Vorbau zurück… Die Sonne war im Untergehen. Dort drüben lag es noch wie ein aufgewirbelter, funkelnder Goldstaub, der das Auge blendete und Himmel und Erde formlos ineinander schwimmen ließ. Wie aus der Hand des Sämanns die weithin geschleuderten Körner, so fielen von dort her Streiflichter purpurn und goldig färbend auf die Wipfel des Bergwaldes und auf das blüthenbeschneite Thalgelände. Einzelne Partien der Gegend traten dadurch überraschend und fremdartig hervor, gleich einem neuen Gedanken in der sinnenden Menschenstirn… Das kleine Dorf dort, das seine letzten Hütten keck den Fuß des Berges ersteigen ließ, erreichte der Sonnenstrahl nicht mehr, aber vom Knopf des spitzen Kirchthurms zuckten noch Blitze, und die weit offenen Thüren der Häuser zeigten das rothglühende Heerdfeuer, auf welchem die Abendkartoffeln kochten… Süßer Abendfrieden lag da draußen, und hier oben quoll der Blumenduft betäubend empor, kein Lüftchen trug ihn weiter, noch rührte es an die sonnenmüden Blätter und Zweige. Manchmal fiel ein schwerfälliger Maikäfer klatschend auf die Galerie, oder ein Schwalbenpaar schwirrte, von Elternsorgen getrieben, vorüber – sonst war es still, feierlich still. Um so ergreifender schwebten die Klänge des Beethoven’schen Trauermarsches heraus in den Vorbau, aber schon nach wenigen Accorden hob Felicitas erschreckt den tiefgesenkten Kopf und blickte angstvoll in das Zimmer zurück – das war kein Clavierspiel mehr; ein Tongeflüster, hinsterbend und geisterhaft, schlug es doch mit der ganzen Kraft einer unabweisbaren, urplötzlich begriffenen Mahnung an das Herz des jungen Mädchens: die Hände, die über die Tasten hinglitten, waren müde, sterbensmüde, und das, was unter ihnen hervorklang, waren die Flügelschläge einer Seele, die sich losreißen wollte für immer.


15.

Die Feuer- und Wassertaufe hatte für die zwei Betheiligten doch ihre Folgen. Ein starkes Schnupfenfieber brach während der Nacht bei dem Kind aus, und Felicitas erwachte am andern Morgen mit heftigem Kopfweh. Sie besorgte trotzdem die ihr übertragenen Geschäfte mit gewohnter Pünktlichkeit, der verletzte Arm hinderte sie wenig, denn die vortreffliche Salbe hatte über Nacht bereits ihre Schuldigkeit gethan.

Nachmittags kehrte der Professor nach Hause zurück. Er hatte eben eine Augenoperation, an die sich bis dahin kein Arzt gewagt, glücklich ausgeführt. In Gang und Haltung offenbarte sich wie immer jenes ruhige, rücksichtslose Sichgehenlassen, das scheinbar durch nichts aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnte, auch die kräftige Hautfarbe seines Gesichts war nicht um eine Nüance erhöhter – wer aber sein Auge kannte, dem mußte der ungewohnte Glanz auffallen, der unter den starken Brauen hervorleuchtete; diese kalten, stahlgrauen Augen, die nur gemacht schienen, prüfend und kühl sondirend in das Seelenleben Anderer zu dringen, hatten also doch auch Momente, wo sie eigene innere Befriedigung und Wärme ausstrahlten.

Er blieb an der Hofthür stehen und frug Friederike, die mit einem Eimer voll Wasser in die Hausflur trat, nach ihrem Befinden.

„Mir geht es wieder gut, Herr Professor,“ antwortete sie, ihren Eimer hinstellend, „aber die da drüben,“ sie zeigte über den Hof hinweg nach einem Fenster im Erdgeschoß, „die Caroline hat gestern bei der Feuergeschichte Eins weggekriegt. Ich hab’ fast kein Auge zuthun können, so hat sie die ganze Nacht im Schlafe vor sich hingeschwatzt, und heute geht sie mit einem Kopf ‘rum, so roth wie Scharlach, und –“

„Das hätten Sie früher sagen sollen, Friederike,“ unterbrach sie der Professor streng.

„Ich hab’s auch der Madame gesagt, aber sie meinte, es würde sich schon wieder geben. Für die ist sein Lebtag kein Doctor geholt worden, und sie ist auch durchgekommen – Unkraut verdirbt nicht, Herr Professor! … Es hilft ja auch gar nichts, wenn man gut mit ihr sein will,“ setzte sie entschuldigend hinzu, als sie sah, daß sich sein Gesicht auffallend verfinsterte; „sie war von klein auf ein verstocktes Ding und hat immer so apart gethan, wie ein Königskind – daß Gott erbarm, so ein Spielersmädchen! … Manchmal, wenn ich für die Madame ‘was Gutes gebacken oder gebraten hatte, da hab’ ich ihr auch ein paar Bissen hingestellt – lieber Gott, man hat ja doch auch ein Herz! Aber glauben Sie denn, sie hätte es angerührt? Ja, Gott bewahre – ich hab’s allemal wieder forttragen müssen. Sehen Sie, Herr Professor, so machte sie’s schon als Kind! Sie hat sich überhaupt immer nur halb sattgegessen, von der Zeit an, wo der sel’ge Herr gestorben ist; es wundert Einen nur, daß sie dabei so groß geworden ist… Das ist aber Alles die pure Verstocktheit und der sündhafte Hochmuth, sie will nichts geschenkt haben, partout nicht! Ich hab’s mit meinen eigenen Ohren gehört, wie sie dem Heinrich gesagt hat, wenn sie erst einmal das schreckliche Haus im Rücken hätte, da wollte sie arbeiten, daß ihr das Blut unter den Nägeln hervorkäme, und jeden verdienten Groschen an die Madame schicken, bis jeder Bissen Brod, den sie hier im Hause gegessen hätte, bezahlt wäre.“

Die alte Köchin bemerkte nicht, daß ihrem Zuhörer während ihres Herzensergusses das Blut immer mehr in das Gesicht stieg. Sie hatte kaum den letzten Satz beendet, als er, ohne ein Wort zu entgegnen, sofort über den Hof nach dem ihm bezeichneten Fenster schritt. Es war ein großes Bogenfenster mit steinerner Einfassung, das sehr tief auf den Boden herabging und zu der Kammer gehörte, in welcher Friederike und Felicitas schliefen. Die offenen Flügel ließen nackte, getünchte Wände und elende Geräthschaften sehen, es war jener enge, abscheuliche Raum, in welchem einst die kleine vierjährige Felicitas die ersten Sehnsuchtsschmerzen hatte durchleiden müssen… Jetzt saß sie da am Fenster, die Ausgestoßene, die Verstockte, die sich nicht satt aß in fremdem Brode, die arbeiten wollte, bis ihr das Blut unter den Nägeln hervorkam, um jede Verpflichtung trotzig abschütteln zu können – ein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 418. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_418.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)