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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Nachdem der kleine Bernhard Müller das achte Lebensjahr erreicht hatte, wurde er in ein Seminarium nach Mainz gebracht, wo er Freiunterricht erhielt, aber auch nach katholischem Erziehungssystem streng abgeschlossen und wie ein Schulpferd, das im Circus gehen soll, dressirt wurde. Hier scheint dem mit außergewöhnlichen Talenten begabten Knaben der Impfstoff religiöser Schwärmerei beigebracht worden zu sein. Als er diese Anstalt nach Zurücklegung seines vierzehnten Lebensjahres verlassen hatte, sollte er auf Verlangen der Müller’schen Verwandtschaft das Schneiderhandwerk erlernen; allein er entlief seinem Lehrherrn nach kurzer Zeit und gerieth in eine Gesellschaft von englischen Reitern, wo er das Balanciren auf dem Seil lernte. Auch hier nicht befriedigt, beschloß er, sich dem geistlichen Stand zu widmen, und ging deshalb in ein Kloster zu Aschaffenburg, wo er unter hoher Protection einige Jahre blieb und sich mit dem Lesen von Legenden und Wundern der Heiligen, mit der Geschichte der geistlichen und weltlichen Ritterorden beschäftigte, unter welchen ihm besonders die Tempelherren mit ihren streitbaren Tendenzen zum Schutze der Pilger und des heiligen Grabes zu Jerusalem, mit ihren Tempelhöfen sammt ihrer Unabhängigkeit von allen politischen Gewalten der Erde, mit ihrem Ansehen und ihren Schätzen wohl gefielen. So wurde schon frühzeitig seine Phantasie erhitzt und er mit hohen Ideen von sich selbst erfüllt, die ihn bis zu förmlichen Visionen geführt haben. Auch erhielt er eine Anstellung als Chorknabe und wurde von unbekannter Hand unterstützt.

Auf diese Weise ist er in den Stand gesetzt worden, eine Pilgerreise nach Rom anzutreten, um das römische Kirchenthum an der Quelle kennen zu lernen, und zwar auf das Gebot einer inneren Stimme. Allein er fand nicht, was er suchte, sah die Gebrechen der Kirche in der Nähe und konnte seine eigenthümlichen Anschauungen damit nicht in Einklang bringen. Deshalb verließ er nach kurzer Zeit die päpstliche Hauptstadt und pilgerte, unter großen Entbehrungen und Kasteiungen, nach Bamberg und, als er auch da nur darauf angewiesen wurde, mit Franciskanern zu terminiren, das heißt von Almosen zu leben, wandte er sich nach Regensburg, einem Bestandtheil des Großherzogthums Frankfurt unter der Regierung des Fürsten Primas Karl von Dalberg, wo er hoffen durfte, unter die Protection seines hohen Gönners zu kommen, dessen unsichtbare Hand schon in Mainz und Aschaffenburg des Guten viel an ihm gethan hatte.

Hier trat aber eine Wendung in seinem Lebensgange ein, die für seine ganze Zukunft entscheidend wurde. Ursprünglich ein guter Katholik, begann er an vielen Lehrsätzen und Einrichtungen der römischen Kirche zu zweifeln, die ihm nicht mehr dieselben zu sein schienen, wie in den ersten drei Jahrhunderten, bildete sich hiernach seine eigenen Anschauungen und überließ sich dem Glauben, daß seine außergewöhnliche Geburt und Herkunft das Vorzeichen seiner göttlichen Mission andeuteten. In dieser mystischen Richtung wurde Müller durch einen Mann bestärkt, welcher William Sykson hieß, Missionär einer Pietistengesellschaft in London war und sich heimlich in Regensburg aufhielt, um Proselyten zu machen. Angezogen durch den Reiz des Geheimnißvollen, wofür Müller’s bizarre Seele sehr empfänglich war, wurde er bald ein Freund und Gesinnungsgenosse des englischen Missionärs, und aus seinem vermeintlichen Schauen in die Geheimnisse der Welt, Natur und Zeit, die dem profanen Auge verborgen seien, entwickelte sich in Müller’s Seele ein unbändiger Hochmuth, zu den Auserwählten zu zählen und mehr zu sein, als Andere, – ein Hochmuth, der sich bis zur Annahme fürstlicher Würden verstieg, um sich als Götze verehren zu lassen. Von da bis zur Rolle eines Propheten war der Schritt nicht mehr so weit.

Wie stark der Trieb in ihm war, seine Offenbarungen kund zu thun, und welchen Muh er besaß, darüber hat man eine Probe aus jener Zeit, wo er in Regensburg lebte. Müller hatte nämlich eine auffallende Anhänglichkeit an den Kaiser von Oesterreich und noch mehr an den Erzherzog Karl; es schien, als ob in Müllers Plan der Welterneuerung Oesterreich im Vordergrund erscheinen solle. Deshalb erließ er im Jahre 1810, als Napoleon der Erste nach der Besiegung Oesterreichs sich mit einer österreichischen Kaiserstochter verheirathet hatte und auf dem höchsten Gipfel der Macht und des Erdenglücks stand, eine Drohnote an den allgewaltigen Imperator, in welcher er demselben in prophetischem Ton seinen nahen Sturz, die Zertrümmerung seiner Macht ankündigte und ihn zugleich aufforderte, ohne Zeitverlust Buße zu thun. Diese Drohnote, welche ohne Angabe des Wohnortes blos mit „Bernhard Müller“ unterzeichnet war, kam auch wirklich in Napoleon’s Hände und der erzürnte Kaiser ließ durch seine geheime Polizei überall Nachforschungen anstellen und setzte einen Preis von tausend Friedrichsd’or auf Müller’s Kopf. Während dieser Nachstellungen wußte sich Müller verborgen zu halten, brachte wochenlang, ja sogar einmal vier Wochen unter der Erde (vermuthlich in einem Keller) zu, wo er nur von Zwiebeln lebte. Hierdurch entging er der Gefahr, bis er nach London entfloh, um Missionär zu werden und als Prophet die Welt zu durchziehen.

In London bereitete er sich zu seiner prophetischen Laufbahn vor und ließ sich durch Sykson dem Vorstand der dortigen Missionsgesellschaft als Mitglied und Sendbote empfehlen. Er wurde mit Vergnügen angenommen, da die Miene des Glaubens und der Frömmigkeit, die er besaß, sein schwungreiches Gemüth und die Kühnheit seines Charakters die besten Erfolge für den Missionsberuf von ihm erwarten ließen. Auch zeigte er sich geneigt, der katholischen Kirche zu entsagen, ließ sich in der evangelischen Lehre so wie in der englischen Sprache unterrichten, blieb aber fest haften an seinen mystischen Idealen, die er aus dem Studium der Bibel geschöpft und denen er später sein ganzes Leben widmete.

So war das Jahr 1812 eingetreten und mit ihm die Erfüllung seiner prophetischen Drohnote. Dieser Erfolg bestärkte ihn in dem Glauben an eine ihm beigelegte höhere Sehergabe, welche zukünftige Dinge im Voraus erkenne. Auch gewann er die Meinung von sich selbst, daß sein Gebet und Flehen Gottes Allmacht und Gnade bewogen habe, die zerstörenden Naturkräfte, als Feuer, Kälte, Hungersnoth und Pestilenz, zum Sturze Napoleon’s in Bewegung zu setzen. Müller’s mystische Richtung erhielt durch diese Zeitbegebenheiten neue Nahrung und einen mächtigen Aufschwung.

Gerade dieses Zutreffen war der Grund, weswegen er sich immer eifriger mit dem Studium der Bibel beschäftigte, weil er glaubte, Alles darin vorgedeutet zu finden, was Welt, Natur und Zeit in ihrem Gange bringen würden. Bei seiner ungemeinen Belesenheit legte er übrigens die Bibel so aus, wie sie zu seinen mystischen Vorstellungen paßte.

Es mochte im Jahre 1813 gewesen sein, als Müller von der Missionsgesellschaft den Auftrag erhielt, sammt William Sykson nach Irland zu gehen. Beide Missionarien wendeten sich, nach längeren erfolglosen Wanderungen, nach Cork, der zweiten Hauptstadt von Irland und einem sehr bedeutenden Handelsplatz, und hier wollte es Zufall und Gelegenheit, daß sie mit zwei Personen bekannt wurden, welche sehr viel dazu beitrugen, daß sich Müller’s Lebenswege immer seltsamer und phantastischer gestalteten. Diese Personen waren Miß H. (deren Namen wir nirgends ausgeschrieben finden) und der Jesuit Martin.

Miß H. wird von unserem englischen Berichterstatter als eine Dame geschildert, die einem Pietistenverein in Cork angehörte, in großen Verbindungen stand, zu den reichsten Damen in Irland zählte und seit den Tagen ihres Frühlings von schmachtenden Seelen umgeben und verehrt war, ohne daß sie sich durch eine dauernde Neigung hätte binden lassen. Schon war sie über die Mittagslinie ihres Lebens hinausgekommen, als Müller in ihr Haus trat und ihre Gunst gewann. Ein bildschöner junger Mann von fünfundzwanzig Jahren mit regelmäßiger Gesichtsbildung, schlanker Figur, imponirendem Wesen und einnehmender Beredsamkeit, wurde er schnell der erklärte Liebling dieser Dame, welche in der mystischen Richtung ihm gefühlsverwandt war und solche Eigenschaften liebte, die außergewöhnlich waren, wie sie in Müller’s Natur sich vereinigt fanden.

Die zweite Person, welche auf Müller’s Leben einen großen Einfluß gewarnt, war der Jesuit Martin, der sich schon seit Jahren in Cork aufhielt, weil er wegen ihm zur Last gelegter Verbrechen den Continent hatte verlassen müssen. Dieser hatte Eingang im Hause der frommen Miß, wurde von derselben zu geheimen Diensten verwendet, besaß eine große Welt- und Menschenkenntniß und wußte es bei der Geschmeidigkeit, die seinem Orden überhaupt eigen ist, so einzurichten, daß er auch neben Müller wenigstens noch Rathgeber im Hause blieb und die Fäden des Gespinnstes in der Hand behielt.

Dieser jesuitische Mephistopheles, dem Müller’s Herz sehr bald wie ein Buch aufgeschlagen war, gewann in Kurzem die Ueberzeugung, daß maßlose Eitelkeit, noch größerer Ehrgeiz und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_330.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2017)