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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

No. 21.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
1.

„Na, jetzt sag’ mir nur um Gotteswillen, wo willst Du denn eigentlich hin, Hellwig?“

„Direct nach X.[WS 1], wenn Du erlaubst!“ klang es halb trotzig, halb spöttisch zurück.

„Aber dahin geht es doch in seinem ganzen Leben nicht über eine Anhöhe! … Du bist nicht gescheidt, Hellwig. … Heda, ich will aussteigen! Ich habe durchaus keine Lust, mich umwerfen zu lassen und meine heilen Knochen einzubüßen – wirst Du wohl halten?“

„Umwerfen? Ich? … I, das wäre doch das erste Mal in meinem Leben“ wollte er vermuthlich sagen! aber ein entsetzlicher Krach erfolgte, und mit demselben verstummten die Lippen des Sprechenden wie die eines Todten. Das Schnauben und Stampfen eines Pferdes wurde für einen Augenblick hörbar; dann stand das Thier auf seinen vier Hufen und jagte wie rasend querfeldein.

„Na, da haben wir die Bescheerung!“ brummte endlich der erste Sprecher, indem er sich auf dem nassen, frisch gepflügten Ackerfeld aufsetzte. „He, Hellwig, Böhm, seid Ihr noch am Leben?“

„Ja,“ rief Hellwig nicht weit von ihm und tastete suchend auf den triefenden Erdschollen nach seiner Perrücke. Alles Selbstvertrauen, aller Spott waren wie weggeblasen von dieser schwachen Stimme. Auch das dritte Opfer versuchte es zunächst mit einer Bewegung auf allen Vieren, wobei es entsetzlich fluchte und stöhnte; denn seine gewaltige Corpulenz fühlte sich unwiderstehlich zur Mutter Erde hingezogen. Endlich war die edle Stellung, die den Menschen als die bevorzugteste Creatur in Gottes weiter Schöpfung kennzeichnet, wiedergewonnen, die drei Gefallenen standen auf ihren Füßen und besannen sich, was eigentlich geschehen sei und was nun geschehen müsse.

Für’s Erste lag die kleine Chaise, in welcher die drei Herren heute Morgen ihr Vaterstädtchen X. verlassen hatten, um zu jagen, umgestürzt neben der unglückseligen Anhöhe und zeigte dem Himmel ihre vier Räder, wie die Drei tastend bemerkten; der Hufschlag des entfliehenden Rappen war längst verhallt, und eine stockfinstere Nacht bedeckte die traurigen Folgen des Hellwig’schen Selbstvertrauens.

„Na, hier übernachten können wir nicht – das steht fest. Machen wir, daß wir fortkommen!“ mahnte endlich Hellwig mit ermuthigter Stimme.

„Ja, nun commandire auch noch!“ grollte der Dicke, indem er sich heimlich überzeugte, daß nicht eine seiner Rippen; sondern die Scherben seines schönen Pfeifenkopfes das beängstigende, knirschende Geräusch an seiner Herzwand verursachten. „Commandire auch noch, das steht Dir gut an, nachdem Du um ein Haar in Deinem schandbaren Leichtsinn zwei Familienväter gemordet hättest. … Uebernachten will ich freilich nicht in dieser Löwengrube; aber nun siehe Du auch, wie Du Rath schaffst… Nicht zehn Pferde bringen mich ohne Licht von dieser Stelle! Ich versinke zwar im Ackerschlamm, und von da drüben her kömmt eine Luft, die mir für ein halbes Jahr meinen Rheumatismus in die Knochen jagt – da drein ergebe ich mich, Du magst es verantworten, Hellwig! Aber ich werde nicht so verrückt sein, mir muthwillig in den tausend Löchern und Gräben, die diese gesegnete Gegend aufzuweisen hat, Arme und Beine zu brechen, oder die Augen einzuschlagen.

„Sei kein Narr, Doctor,“ sagte der Dritte. „Du kannst nicht wie ein Meilenzeiger abwechselnd auf einem Bein hier stehen und abwarten, bis Hellwig und ich in die Stadt tappen und Hülfe holen. Ich hatte längst gemerkt, daß dieser ausgezeichnete Rosselenker zu viel nach links fuhr. Wir gehen jetzt schnurstracks über den Acker nach rechts und kommen an den Fahrweg, dafür stehe ich ein. Und nun komme und mache keine Flausen; denk’ an Weib und Kind, die vielleicht jetzt schon jammern und schreien, weil Du bei der Abendsuppe fehlst.“

Der Dicke brummte etwas von „heilloser Wirthschaft“ in den Bart; aber er verließ seinen Posten und tappte mit den Anderen vorwärts. Das war ein schreckliches Stück Arbeit! Faustdick hingen sich Erdsohlen an die Jagdstiefeln, und hier und da sank ein unsicher tappender Fuß mit aller Vehemenz in eine Pfütze, deren alterirter Wasserspiegel sich sofort in Fontainenform über die Köpfe und Flausröcke der drei Unglücklichen ergoß. Sie erreichten aber doch ohne ernstlichen Unfall den Fahrweg, und nun wurde tapfer und wohlgemuth d’rauf los geschritten. Selbst der Doctor gewann allmählich seine gute Laune wieder; er brummte mit einem fürchterlichen Baß: „Zu Fuß sind wir gar wohl bestellt, juchhe!“ etc.

In der Nähe der Stadt tauchte ein Licht aus der Finsterniß auf; es kam in stürmischer Eile auf die Wandernden zu, und Hellwig erkannte alsbald in dem breiten, fröhlich lachenden Gesicht, das sich in greller Beleuchtung über der Laterne erhob, seinen Hausknecht Heinrich.

„Ja, Herr Je, Herr Hellwig, sind Sie’s denn wirklich?“ schrie der Bursche. „Die Madame denkt, Sie liegen mausetodt da draußen!“

„Woher weiß denn meine Frau schon, daß wir Unglück gehabt haben?“

„Ja seh’n Sie, Herr Hellwig, da ist heute Abend eine

Anmerkungen (Wikisource)

  1. X. steht, wie weiter im Text ersichtlich wird, für Arnstadt. Gleichwohl handelt es sich um eine fiktive Geschichte.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_321.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2019)