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Photographien aus dem Reichstag.
III.

Eine interessante Gruppe bildet das zusammengeschmolzene Häuflein der Altliberalen, der oft verspotteten Gothaner. Aus ihrer Mitte ist der Präsident des Reichstags, Herr Dr. Simson, hervorgegangen. Derselbe hat, abgesehen von seinen sonstigen Verdiensten, eine geschichtliche Bedeutung dadurch erlangt, daß er an der Spitze der Frankfurter Deputation stand, welche Friedrich Wilhelm dem Vierten die von diesem ausgeschlagene Kaiserkrone anbot. Später bekleidete er längere Zeit im preußischen Abgeordnetenhause die Stelle des Präsidenten und zeichnete sich als Abgeordneter durch seine entschiedene Opposition gegen die Regierung und durch sein unbestrittenes Rednertalent aus. Er ist der geborene parlamentarische Ober-Ceremonienmeister, wozu er sich durch seine genaue Kenntniß der üblichen Formen und durch seine ganze würdige Erscheinung eignet. Mit classischer Ruhe sitzt er auf dem Präsidentenstuhl gleich einem alten Römer, dem nur die Toga fehlt, das geistvolle Haupt auf die Brust gesenkt, die Hand nach der Glocke ausgestreckt, mit welcher er jeden drohenden Sturm zu beschwichtigen weiß. Mit seltener Klarheit folgt er der Debatte, entscheidet er die verwickeltsten Punkte der Fragestellung, ordnet er die Reihenfolge der Amendements, Unteramendements und der Anträge, ertheilt er das Wort oder unterbricht er die Redner, wenn sie im Eifer des Gefechts von der Sache abschweifen und bei persönlichen Bemerkungen das Maß des Erlaubten überschreiten. Wie ein Gott schwebt er über den sich bekämpfenden Parteien, bringt er Licht und Ordnung in das parlamentarische Chaos. Als Redner entwickelt Simson eine große Eleganz und Feinheit; seine Perioden sind sorgfältig ausgearbeitet und gefeilt, Bilder und Gleichnisse mit Geschmack gewählt, der Witz, der ihm zu Gebote steht, verräth classische Bildung, attisches Salz, geistreiche Pointen. Seine Worte erscheinen, wie er selbst, immer à quatre épingles, im schwarzen Leibrock, mit Glacéhandschuhen, weißer Cravatte und Manschetten. Er spricht wie sein Vorbild Cicero „ore rotundo“, mit salbungsvoller Würde, mit einer gewissen Grazie, selbst wenn er seinen Gegner angreift und einen Stoß gegen dessen Blößen führt. Er begeistert nicht, er reißt nicht hin, aber man hört ihn gern und bewundert sein rhetorisches Talent, seine klaren Gedanken, seinen schönen Periodenbau und auch seine ehrenwerthe Gesinnung.

Aus ganz anderem Holz geschnitzt und aus einem andern Thon geformt ist der aus alten Zeiten wohlbekannte Herr von Vincke (Hagen). Wenn der Präsident Simson sich mit einem ruhig leuchtenden Fixstern vergleichen läßt, so schweift sein politischer Freund und Gesinnungsgenosse als ein rastloser, mehr blendender als erhellender Komet an diesem parlamentarischen Himmel. Immer beweglich wie Quecksilber, ist er selten auf seinem Platz zu finden, sondern stets im Saale herumirrend, gleich einem Pendel hin- und herschwankend zwischen dem Ministertisch und den Bänken der Rechten, in den Gängen und verschiedenen Ecken des Saales, wo er sich wie ein Kreisel herumtreibt, indem er bald dem alten General Steinmetz die Hand drückt, bald mit einem Bundescommissär eifrig spricht. Sein geröthetes Gesicht mit den hängenden Wangen und dem vorspringenden Kinn erinnert einigermaßen an die geistreiche Caricatur des englischen „Punch“. Der graue, fast weiße Kopf steckt tief in den hochgezogenen Schultern, die Hände verschwinden abwechselnd in den Armlöchern seiner Weste oder in den Hosentaschen. So sitzt er, wenn er überhaupt sitzt, mit einer unnachahmlichen Nonchalance in lauernder Stellung wie ein Jäger auf dem Anstand. Plötzlich springt er auf und ergreift nicht die Büchse, aber das Wort. Er spricht oder widerspricht vielmehr, da sein eigentliches Element der Widerspruch mit sich und Andern ist. Die verkörperte Opposition, ausgerüstet mit einer seltenen Schlagfertigkeit und einem angeborenen Witz, feierte er auf dem „Vereinigten Landtage“ die größten Triumphe gegen die Regierung, welche ihm die Bewunderung seiner Zeitgenossen und den Namen des „preußischen Mirabeau“ eintrugen. Seitdem ist sein Ruhm verblaßt, sein Witz gealtert und gegenwärtig kämpft er auf Seiten der Regierung öfters gegen seine früheren politischen Freunde, ohne daß man ihn direct der Apostasie beschuldigen kann wofür seine unabhängige Stellung bürgt. Im Grunde ist er der Alte geblieben, ein rücksichtsloser Parteigänger, ein kühner Stegreifritter, der den Kampf um des Kampfes willen liebt und sich mit jedem Gegner herumrauft, um seine Ueberlegenheit zu zeigen. Seine Junkernatur kann sich nicht verleugnen und bricht immer wider Willen hervor; hätte er keinen andern Gegner, so würde er mit sich selbst oder mit seinem Schatten anbinden. Sein unbestrittener Witz ist gewöhnlich gegen die Person und nicht gegen die Sache gerichtet, wo er aber ernst oder gar pathetisch wird, erregt er oft blos Lachen, was ihn jedoch nicht stört, wenn nur gelacht wird. Schade, daß ein so großes Talent, eine so reich begabte Natur sich selbst zerstört und den einst erworbenen Ruf eines hochgeehrten Freiheitskämpfers den subjectiven Gelüsten, dem vorübergehenden Erfolge opfert. – Auf derselben Seite finden wir noch den Grafen Schwerin, dessen mehr bürgerliche als aristokratische Erscheinung ein unbedingtes Vertrauen mehr zu seiner Gesinnung als zu seiner Thatkraft einflößt, den schlesischen Grafen Dyhrn, einen gemüthlichen Liberalen, mit der Figur und dem Humor eines Fallstaff, und den Professor Max Duncker, der als Verfasser einer Geschichte des Alterthums bekannt ist und als vortragender Rath des Kronprinzen lange Zeit ein Dorn in den Augen der reactionären Hofpartei war, die sich jedoch durch seine Haltung mit ihm jetzt ausgesöhnt zu haben scheint. –

Hinter den Altliberalen sitzen die Mitglieder der neugebildeten national-liberalen Fraction, die sich hauptsächlich aus der Fortschrittspartei recrutirt hat. An ihrer Spitze steht Herr Twesten, dessen Talent und Charakter selbst von seinen Gegnern hochgeachtet werden. Als echter Deutscher folgt er seiner individuellen Ueberzeugung bis zum Eigensinn, auch wenn er damit bei seinen Freunden Anstoß erregen und vollkommen isolirt stehen sollte. Es liegt in seinem ganzen Wesen etwas Abstractes oder vielmehr ein ideeller Zug, der auch in der sinnigen Physiognomie, in dem geistig ruhigen Ausdruck seines Gesichtes, in der ganzen bescheiden reservirten Haltung sich kund giebt. Dabei fehlt es ihm nicht an staatsmännischer Einsicht, an praktischem Verständniß, an Scharfblick und Klarheit. Daß er Muth und Energie besitzt, hat sowohl der frühere Chef des königlichen Militärcabinets, General von Manteuffel, wie der Herr Justizminister Graf zur Lippe erfahren. Trotz dieser ausgezeichneten Eigenschaften, wie sie selten in einem Mann zusammengefunden werden, vermißt man jedoch an Twesten die hinreißende Macht der Begeisterung, die Gewalt der Leidenschaft, die zündende Kraft des Wortes, welche blitzähnlich die Hörer entflammt. Seine Rede ist stets überzeugend, so klar und scharf wie ein heller Wintermorgen, frei von jeder Phrase, fern von allem falschen Pathos, aber sie erwärmt nicht, wenn wir ihr auch meist mit ganzer Seele zustimmen müssen; sie gleicht mehr einer Denkschrift, als der freien Eingebung des Genius. Twesten ist ein eifriger Philosoph und Verehrer Kant’s, dessen kategorischer Imperativ gleichsam die Richtschnur seines Lebens und politischen Wirkens, der Schlüssel zu dem ganzen Charakter zu sein scheint.

Eine eigenthümliche Stellung nehmen die Professoren Gneist und von Sybel in der Versammlung des Norddeutschen Parlaments ein. Beide berühmte Gelehrte und ausgezeichnete Redner, Mitglieder der entschiedensten Opposition im preußischen Abgeordnetenhause, haben in jüngster Zeit eine bemerkenswerthe Umwandlung in ihren Meinungen und politischen Ansichten erlitten und von Neuem den Beweis geliefert, daß ein deutscher Professor zu den incommensurabeln Größen gehört, indem er aus lauter Respect vor einer „imponirenden That“ die Besinnung verliert und die seltsamsten Extravaganzen begeht. Freilich hat besonders Herr von Sybel schon früher sein Talent für solche Metamorphosen vielfach nachgewiesen, so wenn er in seinen historischen Schriften dem despotischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm dem Ersten nachrühmt, daß dieser absoluteste Herrscher stets nur der öffentlichen Meinung seiner Unterthanen Rechnung getragen habe, die er bekanntlich in landesväterlicher Milde eigenhändig mit dem Stock tractirte. Eben so eigenthümlich waren die Auslassungen des Herrn von Sybel über das deutsche Kaiserthum und die polnische Geschichte. Doch sind alle diese Paradoxen und geistreichen Balancirkünste nur Kleinigkeiten gegen den letzten Luftsprung des berühmten Historikers, der in der That einem wahren salto

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_251.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2017)