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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Die Blume des Maitranks.
Von A. Kerner.


…… „und mit Eins
Waldmeister sich und Rebenblüth’ umschlangen, –
Ei welch ein duftig zärtlich herzig Pärchen!“



Wer kennt es nicht, das heitere „Rhein-Wein- und Wandermärchen“, welchem wir die Verse des obenstehenden Mottos entnommen haben; wer kennt es nicht, das heitere Lied, in welchem uns Roquette die Abenteuer aus Prinz Waldmeisters Brautfahrt in bunten Scenen vorüberführt und aus dem es uns so frisch und duftig entgegenweht, wie aus einem jung belaubten frühlingsgrünen Buchenwald. Die Bilder der rebenumkränzten Rheinufer ziehen in dem holden Märchen an uns vorüber; in der milden Luft schöner Maitage wandern wir wieder längs dem breiten rauschenden Strome, hier durch Weingelände und über grünende

Der Waldmeister.

sonnige Hügel, dort in den kühlen Schatten eines alten hochgewölbten Buchenhaines. – Wer noch seine Lust hat an den schönen Bildern unserer heimischen Wälder und Fluren, wer sich noch mit ungekünstelter Freude ergötzen mag an der bunten Welt der Blumen und sich noch erquickt fühlt durch Sang und Klang und durch ein heiteres Lied, der sucht wohl gern beim anbrechenden Frühling wieder Roquette’s Märchen hervor und zieht an dessen Hand hinaus über Berg und Thal durch Sonnenschein und Waldesdunkel, um dort im grünen Walde den Prinzen „Waldmeister“ aufzusuchen und ihn mit frühlingsfroher Stimmung zu begrüßen.

Und kaum ist er in den dämmerigen schattigen Buchenwald eingetreten, so winkt ihm auch schon aus dem Halbdunkel das frische hellgrüne Kräutlein entgegen. In dichten Schaaren stehen da die Sprossen des Waldmeisterleins auf dem kühlen Grunde, – hier aus dürrem abgefallenem Buchenlaub sich emporringend, dort zwischen Steingerölle und altem Wurzelwerk die blüthenreichen Stämmchen entfaltend. Dutzendweise sprossen aus den vielästigen, in der schwarzen Walderde weit herumkriechenden dünnen unterirdischen Wurzelstöcken die grünen sommerlichen Triebe hervor. Sternförmig angeordnete Blättergruppen besetzen in gleichen Abständen die spannenhohen Triebe und jeder dieser Blattsterne besteht wieder aus sechs bis acht länglichen und ungetheilten, am Rande sich etwas rauh anfühlenden, sonst aber ganz glatten Blättchen von heller frischer grüner Farbe. Obenauf zertheilt sich der zarte vierkantige Stengel gabelförmig in zahlreiche Aestchen, die zusammen eine zierliche mehr oder weniger reichblüthige lockere Trugdolde bilden, und jedes der Aestchen ist mit kleinen Blüthen geschmückt, die in dem zartesten Milchweiß prangen und im Mai, zur Zeit, wann sich die kleinen vierspaltigen Glöckchen aufthun, einen überaus lieblichen Wohlgeruch aushauchen.

So eine Gruppe vollüber blühenden Waldmeisters ist wohl eines der freundlichsten Waldbilder, das man in unserer Zone sehen kann. Ihr Effect ist um so größer, da der schattige Buchenwald in der Regel sehr arm an blühenden Pflanzen ist und unser Waldmeister oft auf weite Strecken hin als das einzige grüne Kraut erscheint, das den von dürrem, fahlgelbem Laub bedeckten Boden des Buchenwaldes mit seinen duftenden Blüthen schmückt. – Während fast alle anderen Pflanzen den schattigen Waldgrund fliehen, scheint es dem Waldmeister gerade dort am besten zu gefallen, und der Buchenhain ist daher recht eigentlich seine Heimath und sein grüner hochgewölbter Palast, in welchem er residirt und sich breit macht. Es ist so, als ob eine Art geheimer Sympathie zwischen der hohen Buche und diesem grünen niedrigen Kraut bestünde und als ob die Buche ihre Freude an der zarten schmucken Pflanze hätte, die sich unter ihrem schattigen Laubdache so gut zu behagen scheint. Beide Gewächse haben auch merkwürdigerweise fast dieselbe geographische Verbreitung, dieselbe Vorliebe für gewisse Standorte, denselben Entwickelungsgang und dieselbe Lebensgeschichte.

Nur in den nördlicheren Gegenden dehnt der Waldmeister seinen Verbreitungsbezirk noch eine Strecke weit über das Gebiet der Buchen hinüber aus und findet sich dort noch bis Finnland, Litthauen und Kasan verbreitet, während die nördliche Grenze des Buchenlandes schon an einer Linie zurückbleibt, die aus dem südlichen Skandinavien über Danzig nach Volhynien und Podolien und in das südliche Rußland zieht. Weiter südwärts aber gehen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 245. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_245.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2017)