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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

verstand, als sein kluger Director. Im darauf folgenden Jahre mußte die Afrikanerin in London aufgeführt werden; Gye hatte von dem Pariser Verleger das Anrecht hierzu erworben und war gezwungen, dem Rivalen Mapleson von der großen italienischen Oper (Her Majesty’s Theatre), der seinerseits die größte Anstrengung entfaltet hatte, um seinem Theater die vogue zuzuwenden, einen mächtigen Hebel entgegenzusetzen; keine Sängerin, das mußte er sich selbst gestehen, vermochte dieses Gegengewicht zu bieten, als die Lucca, und er mußte die, welche ihm den Streich gespielt hatte, noch bitten, wiederzukommen und ihr Bedingungen zugestehen, nach welchen ihr für drei und einen halben Monat fast zwanzigtausend Thaler gesichert wurden. Sie kam, sie trat als Selica in der Afrikanerin auf, sie faßte alle ihre Erinnerungen an des verewigten Meyerbeer’s Unterweisung zusammen, sie entfaltete alle Mittel ihrer großartigen Begabung, und mit einem Satze schwang sie sich gerade mit dieser Partie auf eine Höhe, wo sie alle Rivalinnen weit hinter sich ließ. Weit nach allen Landen erscholl ihr Ruf, von Petersburg aus kam das Anerbieten von vierzigtausend Rubel für vier Monate, von Paris eine Einladung, doch wenigstens als Gast einige Tage daselbst zu weilen. Sie folgte auf ihrer Rückreise von London dieser Einladung und war der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit; alle großen und kleinen französischen Componisten brachten ihr Huldigungen dar; Auber, in dessen Hause sie die Zerline (aus Fra Diavolo) sang, schenkte ihr die Feder, mit welcher er diese Oper geschrieben hatte; Rossini erschöpfte sich in Liebenswürdigkeiten. Umstrahlt vom Glanze dieser Erfolge kehrte sie nach Berlin zurück, und die preußische Hauptstadt, die nicht hinter denen Englands und Frankreichs zurückbleiben wollte, überbot sie; die Luccaverehrung wurde zum Luccacultus, die früheren Bewunderer wurden Enthusiasten, die Enthusiasten Fanatiker, die Fanatiker wurden ganz verrückt.

Seit dem November 1865 ist sie mit dem ehemaligen Gardelieutenant Baron von Rahden vermählt; er war einer der schönsten Officiere der preußischen Armee; ihn hat sie aus der nicht geringen Zahl hochgeborner Werber erkoren, und die künstlerische und gesellschaftliche Stellung, die sie heute behauptet, ist eine, wie sie bisher noch keiner activen Sängerin zu Theil geworden ist. Denn selbst die Sontag trat, als sie Gräfin Rossi wurde, von der Bühne zurück, welche sie nur vom Zwang der Verhältnisse getrieben wieder aufsuchte. Die Lucca aber blieb Mitglied des Theaters, während ihr Gemahl seine bisherige Laufbahn aufgab, und sie ist das Meteor der Berliner Oper, der Fixstern, um den sich Alles dreht, Planeten gleich, das Alpha und Omega eines nicht unbedeutenden Theiles des Berliner eleganten Lebens. Viele unserer eleganten Löwen vom Schlachtfelde kennen in der Stadt neben Hof- und Avancementsangelegenheiten nur die eine: Die Soiréen bei Frau von Rahden; die jungen Helden von der Börse kennen nur zwei Fragen: Wie stehen die Curse? und: wann singt die Lucca? Gar viele der kunstbegeisterten Damen, die zu Hause für Gluck und Mozart schwärmen, gehen in’s Theater, nur wenn die Lucca im Trovatore oder in der Afrikanerin singt – manche strenge Recensenten, die jeden Sänger zermalmen, welcher sich eine unpassende Roulade, irgend den Gesetzen der keuschen Kunst widersprechende Nüancen erlaubt, haben nur Ausdrücke der Bewunderung für die Lucca; wenn die Gefeierte singt, so verwandeln sich die Theaterbillets in Actien, die wie das beliebte Papier gesucht und bezahlt werden. Der Platz vor dem Opernhause ist eine geheime Börse, wo sehnsüchtige Theaterbesucher mit den Händlern feilschen; wenn die Lucca singt, so stehen schon vor Tagesanbruch, ja oft schon von Mitternacht an (factisch!) eine Masse Menschen vor dem Opernhause, die in stoischer Aufopferung der Nachtruhe dort warten, bis die Pforte sich erschließt und sie drängend und gedrängt, stoßend und gestoßen, schimpfend und geschimpft an die Cassa gelangen und einen Sitz für den Abend erobern können.

Prüft man nun die künstlerische Bedeutung der Sängerin, so muß vor Allem und ohne Rückhalt zugestanden werden: die Lucca ist ein darstellendes Genie. Sie ist Naturalistin, die Kunst des Gesanges steht bei ihr in zweiter Reihe, man darf von ihr nicht die Coloratur, nicht den reinen, immer sichern Ansatz, nicht die vollkommene Beherrschung des Materials und den integren Vortrag erwarten, die nur Resultate der vollendeten Kunstschule und hohen Auffassung sind; nichtsdestoweniger ist sie einzig in ihrer Art! Diese nicht gleichmäßig gebildete, manchmal scharfklingende Stimme entwickelt – oft plötzlich – in Momenten der Leidenschaft Fülle und durchdringende Kraft, andererseits in lyrischen Scenen, wo die natürliche Empfindung und nicht die höhere Auffassung maßgebend ist, einen weichen Schmelz, eine eindringliche Wärme, die von mancher geschulten Künstlerin vergebens angestrebt werden. Diese kleine zierliche Gestalt mit dem mehr reizend pikanten als schönen Gesichtchen und dem lebhaften Auge – und die man, bei einer ersten Begegnung außerhalb der Bühne, sich nur als Cherubine, als Zerline oder Norma denken kann, entfaltet in allen modernen hochtragischen Rollen eine überwältigende Macht der Leidenschaft im Vortrage und in der Darstellung, die selbst dem strengen Richter die Anerkennung abzwingt, daß hier etwas von dem „Dämon“ lebt, der momentan über Jeden seinen Zauber ausübt.[1]

Eine solche überreiche Begabung rechtfertigt die außerordentlichen Erfolge und erklärt, wie das große Publicum ganz übersieht, daß die berühmte Sängerin in der wahren deutschen Oper nicht auf derselben Höhe steht, daß ihr die höheren Rollen Mozart’s, Gluck’s und Weber’s fern liegen.

Was nun die gesellschaftliche Persönlichkeit, das Gebahren der berühmten Sängerin betrifft, so konnte der geneigte Leser sich aus unserer Erzählung wohl selbst einigermaßen ein Urtheil bilden; jedenfalls wird er es sehr begreiflich finden, daß über eine solche Persönlichkeit die widersprechendsten, verschiedenartigsten Meinungen vorherrschen, daß jedes ihrer Worte, jeder ihrer Schritte besprochen und commentirt wird, mehr als eine Rede des Grafen Bismarck. Es giebt Leute, welche behaupten, die Lucca sei über alle Maßen hochfahrend, launisch, fast ungezogen, Andere erblicken in ihr das graciöseste, natürlichste, gutmüthigste, liebenswürdigste Geschöpf unter der Sonne – die Einen wollen wissen, daß sie mit ihren Collegen bald sehr höflich verkehrt, bald wieder sie keines Blickes würdigt, daß sie an Tagen, wo das Publicum ihr nicht genügend huldigt, allen Leuten, die ihr gerade in den Wurf kommen, sehr ungebundene Phrasen an den Kopf wirft; daß sie bei jeder Gelegenheit mit der Drohung „Auf der Bühne hab ich’s letzte Mal gesungen“ zur Hand ist – wieder Andere versichern, es gebe keine weniger anmaßende, freundlichere, von Intriguen entferntere Primadonna, und nur die verschiedenen Manöver, die man gegen sie ausführte, brächten sie in solch’ üble Laune, die aber vor dem ersten freundlichen Worte wieder verschwinde.

Um zwischen solchen Widersprüchen ein ganz richtiges Urtheil fällen zu können, müßten wir eine noch genauere Kenntniß des Coulissenwesens besitzen, als wir, aufrichtig gestanden, uns anzueignen wünschen. Wir wollen hier nur darauf hinweisen, daß der berühmten Primadonna die eine Anerkennung vor vielen anderen gebührt: Sie ist nicht übermüthig geworden im Glücke: die kleine Choristin des Kärnthnerthor-Theaters, die „Sechszig-Gulden“-Elvira in Olmütz, die gefeierte Sängerin, die europäische Berühmtheit, die Königliche Kammersängerin, die auf Lebenszeit mit hohem Gehalte und Pension angestellte erste Primadonna der Berliner Hofoper, die Baronin Rahden – sie sind im Charakter eine und dieselbe Erscheinung.

Mancher der oben angeführten Widersprüche in den Urtheilen mag daher entspringen, daß die Lucca in ihrer Redeweise wie in ihrem ganzen Gebahren noch den ursprünglichen Typus der echten Wienerin beibehalten hat, der eben eigenthümliche Gegensätze bietet: ist sie gut gelaunt, dann erscheint sie liebenswürdig, jovial, voll naiven Witzes und ohne den leisesten Anflug von Hochmuth, auch voll Herzensgüte; und jener Dialekt, der auf der Bühne hie und da nicht gerade dramatisch wirkt, klingt im gesellschaftlichen Verkehr „natürlich, entzückend, melodiös“, als „Sprache des Frohsinns“


  1. Der Verf. dieses Artikels hat Frau Lucca in der ersten Vorstellung der Afrikanerin gesehen, nachdem er den beiden Hauptproben beigewohnt hatte – er ging an dem Abende mit jener Gleichgültigkeit eines Zuhörers in die Oper, dem an der Musik nicht die Neuheit und das hohe Agio der Plätze imponirte – als aber plötzlich die Lucca im Costüm der Selica in den Berathungssaal stürzte und die Versammlung des hohen Rathes, vor dem sie als Königin, als Sclavin erscheint, mit stolzem, zornigem Blicke maß, fühlte er sich auf’s Höchste überrascht – sein Interesse blieb rege bis an’s Ende der Vorstellung – dies war das Werk der Lucca! Und ein sehr großer Künstler, der würdigste und entschiedenste Vertreter der edelsten classischen Musik, gestand, daß er nicht ohne eine gewisse Voreingenommenheit gegen die vergötterte Sängerin in die Vorstellung der Hugenotten gegangen sei und daß auch ihn die dramatische naturalistische Macht ihrer Darstellung und ihres Gesanges höchlichst überrascht und angeregt habe.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_202.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2017)