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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Aus deutschen Gerichtssälen.[1]
Nr. 1. Zwei Brode.


Der Vater winkte seiner Tochter Schweigen zu, als Beide durch den Gerichtssaal hindurch auf die Anklagebank geführt wurden und das Mädchen dem von Scham und Furcht beklommenen Herzen durch lautes Weinen Erleichterung zu schaffen suchte. „Was wir gethan haben,“ sprach er leise zu ihr, „müssen wir verantworten. Der Schuld folgt die Strafe.“

Mit diesen Worten hatte er seinen Platz in den Schranken eingenommen und stand in ehrerbietiger Haltung dem Gerichtshofe gegenüber. Es war ein Mann von ungefähr sechszig Jahren, eine jener kernigen Figuren, die auf den ersten Blick Vertrauen und Mitgefühl erwecken. Daß er Soldat gewesen, ließ sowohl seine ungezwungene und doch straffe Stellung als auch die in diesem Theile des preußischen Staats nicht gewöhnliche Reinlichkeit seines ärmlichen, überall geflickten Anzuges erkennen, während die knochige und fast braune Hand den Tagearbeiter verrieth. Unter der aus Deutschen und Polen gemischten Bevölkerung der Provinz dem Stamme der Ersteren angehörig, trug auch sein Gesicht den Typus dieser Race. Charakteristisch und anziehend wurde es aber durch die ergebungsvolle Resignation, die sich in dem sonst offenen Blick aussprach, sowie durch die tiefe Schwermuth, welche auf seiner Stirn lag und zu der die von der andauernden Sorge schärfer als vom Alter gefurchten Wangen eine hinreichende Erklärung gaben.

Nachdem der Vorsitzende des Gerichtshofes die üblichen Fragen nach seinen persönlichen Verhältnissen an ihn gestellt und der Angeklagte sie beantwortet hatte, wurden dieselben Fragen auch seiner Tochter vorgelegt. Es war jedoch unmöglich, das Mädchen zu einer Antwort zu bewegen. Das deutsche Weib hat eine fast unüberwindliche, tief in seinem ganzen Wesen wurzelnde Scheu vor gerichtlichen Verhandlungen, in denen es nicht etwa nur die Rolle des Zuschauers spielt. Hebt es ja doch die ältere Generation gern noch immer rühmend hervor, daß weder Mutter noch Großmutter jemals „zu Gericht“ gegangen sei, und selbst die jüngere Frau kann sich beim Eintreffen einer gerichtlichen Vorladung nur schwer des Gefühls entschlagen, als drohe irgend ein Unglück, das man durch ein vorläufiges Vergessen des richterlichen Befehls wenigstens hinauszuschieben versuchen müsse. Daher denn auch die Befangenheit, die Einsilbigkeit und Unbestimmtheit des deutschen Weibes gegenüber dem selbstbewußten Auftreten und dem klaren und gewandten Vortrage von Polin und Französin. Aber nun gar in den für die Verbrecher errichteten Schranken zu stehen unter der Anklage wegen schweren Diebstahls, – wer möchte dem achtzehnjährigen Mädchen zürnen, dem von allen Seiten das Zeugniß eines bisher makellosen Lebenswandels gegeben wurde, wenn es, bis in das Innerste erschüttert, sich nicht zu fassen vermochte und statt der Worte nur Thränen hervorbringen konnte! Der Vorsitzende, ein zartfühlender Mann, stand deshalb auch bald davon ab, weiter in sie zu dringen. Er überließ es dem Vater, die an sie gerichteten Fragen zu beantworten, oder ergänzte die Antwort aus den Acten und es erfolgte dann die Vorlesung der Anklage.

Während derselben senkte sich das Haupt des Alten tiefer und tiefer und seine Brust arbeitete gewaltig. Erst als der Staatsanwalt geendet hatte und die Frage an ihn gerichtet wurde, ob er sich schuldig bekenne oder nicht, hob er den Kopf wieder empor. Man ersah aus den Bewegungen seines Körpers, daß er all’ seine Kräfte zusammen raffe, um die Antwort zu geben, welche die letzten Tage seines Lebens mit einem untilgbaren Flecken beschmutzen sollte, nachdem er sechszig Jahre voll drückender Armuth und schwerer Entsagungen die Ehre seines unbescholtenen Namens als sein höchstes Gut gewahrt hatte.

„Ich bekenne mich schuldig,“ erwiderte er endlich mit gepreßter und doch im ganzen Raume des Gerichtssaales hörbarer Stimme. „Ich habe die beiden Brode, von denen die Anklage spricht, meinem Nachbar genommen, – gestohlen!“ fügte er wie im Gespräch mit sich selbst hinzu. „Der Nachbar hatte gebacken und das Brod auf den Boden seines Wohnhauses getragen. Ich wußte das, nahm Nachts eine Leiter, stieg auf sein Dach, riß einiges Strohwerk heraus, zwängte mich hindurch und nahm zwei kleinere Brode mit mir.“

„Und wurdet Ihr bei der That ergriffen?“ fragte der Vorsitzende.

„Nein, Herr Präsident. Aber der Nachbar warf den Verdacht auf seinen Knecht und der arme Mensch sollte aus dem Dienste entlassen werden. Da ging ich zu ihm und gestand, daß ich mit meiner … daß ich die Brode gestohlen hätte.“

„Habt Ihr den Diebstahl allein, ohne Beihülfe einer andern Person verübt?“ fragte der Vorsitzende weiter.

Eine lange Pause entstand. Der Mann faltete seine Hände, als wolle er Gott bitten, ihm die Antwort auf diese Frage einzugeben, und starrte einige Augenblicke wie gedankenlos in den Saal, in dem das tiefste Schweigen sich verbreitete. Ein leises Schluchzen seiner Tochter brachte ihn wieder zu sich. Er wandte sich zu ihr und sah sie mit einem Blick unbeschreiblicher Wehmuth und Liebe an. Dann legte er beide Hände wie zum Segen auf ihren Kopf, zog sie an sich heran und, indem er sie heftig an seine Brust drückte, rief er mit bebender Stimme: „Ja, ja – ganz allein!“

Es lag etwas tief Ergreifendes in dem Vorgange. Dieser alte Mann mit grauem Haar, der bisher stolz gewesen war auf das allgemeine Vertrauen in seine Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit – er bekannte ohne Rückhalt die That, soweit sie ihn selbst betraf, in Ergebung die Strafe und Schande erwartend, die sie in ihrem Gefolge haben mußte. Aber seine Tochter, auch sie durch sein Bekenntniß preiszugeben der Verurtheilung wegen Diebstahls, der Entehrung in den Augen der Menschen und der Haft im Gefängniß, in welchem sie den Auswurf ihres Geschlechts kennen lernen mußte und in der näheren Berührung mit den Lastern der verschiedensten Art vielleicht moralisch vernichtet wurde, – das vermochte er nicht über’s Herz zu bringen, dafür lieber eine Lüge!

Der Vorsitzende wußte wohl, daß die Antwort dem wirklichen Sachverhalte nicht entsprach, achtete indeß mit Recht das Motiv dieser Lüge und ging deshalb nicht näher auf die Antwort ein. Nachdem er einige Augenblicke die Acten durchblättert, wandte er sich an die Tochter.

„Sie sind der Theilnahme an dem von Ihrem Vater begangenen und eingestandenen Diebstahl angeklagt. Sie werden beschuldigt, am Fuße der Leiter Wache gehalten zu haben, während Ihr Vater die Brode vom Boden herunterholte. Bekennen Sie sich schuldig oder nicht?“

Die Tochter hatte sich inzwischen einigermaßen gefaßt. Mit einem schüchternen Blick auf den Vater, der, das Gesicht mit beiden Händen verhüllt, in Gedanken versunken schien, antwortete sie leise und schnell, als ob sie die wieder hervorquellenden Thränen verhindern wollte, ihre Stimme zu ersticken:

„Ja, ich habe Wache gehalten und, während der Vater die Brode vom Boden holte, die wankende Leiter gestützt. Sie konnte umfallen und der Vater sich beschädigen. Ich bekenne mich schuldig.“

„Mein Gott, mein Gott!“ seufzte wie vernichtet der Alte, als er dies Geständniß gehört hatte. Und dann sich händeringend gegen die Richter wendend, rief er im Tone der Verzweiflung: „Gnade, Gnade für mein armes Kind!“

„Hatten Sie die Verübung des Diebstahls vorher mit Ihrem Vater verabredet?“ fragte der Vorsitzende.

„Nein, kein Wort ist darüber unter uns gewechselt. Ich hörte meinen Vater nach Mitternacht aufstehen, sich ankleiden und fortgehen. Eine unerklärliche Angst befiel mich, denn mein Vater ist noch niemals zur Nachtzeit fortgegangen. Es kam mir vor, als müsse etwas Besonderes geschehen, und so ging ich ihm nach. Als ich hinauskam, sah ich ihn im Mondenschein an des Nachbars Haus gehen, eine Leiter an das Dach legen und jetzt fiel mir plötzlich ein, daß dieser Tags zuvor gebacken hatte. Wir


  1. Mit den vorstehenden Mittheilungen eröffnen wir eine neue Rubrik unserer Artikel und bemerken ausdrücklich, daß die darin erzählten Scenen nicht fingirte sind, sondern sich lediglich auf wirklich erlebte Gerichtsverhandlungen beziehen. Zugleich bitten wir, außer unsern ständigen Mitarbeitern, alle Richter und Staatsanwälte, die sich durch die obige Skizze dazu angeregt fühlen sollten, uns sachlich interessante Episoden aus ihrem Berufsleben mittheilen zu wollen.
    D. Red.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_159.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2017)